Triage in Zeiten von Covid 19

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Ethische Dilemmata der Triage

Auf einer wenig befahrenen Straße kommt es zu einem folgenreichen Unfall. Ein Bus kommt von der Fahrbahn ab und kracht gegen einen Baum. In ihm sitzen dreißig Schüler*innen und ihre Lehrer*innen auf dem Weg zum einen Schulausflug. In Folge des Unfalls werden fast alle Businsassen verletzt. Zufällig kommt ein Rettungswagen mit zwei Sanitäter*innen und einer Ärzt*in vorbei. Sie wissen, auch wenn sie sofort Unterstützung anfordern, wird die Anfahrt von suffizienten Rettungsmitteln längere Zeit in Anspruch nehmen.

Wie sollen sie die Versorgung der über dreißig Verletzten organisieren?

Bei dem beschriebenen Fall handelt es sich um einen sogenannten Massenanfall an Verletzten (MANV), bei dem die individuelle und gleichzeitige Versorgung der Patient*innen auf Grund von fehlenden Kapazitäten (noch) nicht möglich ist. In einem solchen Fall kommt die sogenannte „Triage“ zum Einsatz, ein spezialisiertes Verfahren zur Priorisierung medizinscher Hilfeleistungen. Dabei werden die Verletzten mit Hilfe so genannter Sichtungskriterien in 4 Gruppen eingeteilt:

Gruppe I/Rot – akute, vitale Bedrohung: Sofortbehandlung

Gruppe II/Gelb – schwer verletzt/erkrankt: aufgeschobene Behandlungsdringlichkeit

Gruppe III/Grün – leicht verletzt/erkrankt: verminderte Behandlungsdringlichkeit

Gruppe IV/Schwarz – ohne Überlebenschance: zunächst nachgeordnete Behandlungsdringlichkeit


Das Prinzip, dem die Triage dabei folgt, ist das der Dringlichkeit und der damit verbundenen Interpretation, was im konkreten Fall verschiedene ethische Fragen aufwirft:

Wird die Behandlung eines Patienten aus Gruppe I der Behandlung eines Patienten aus Gruppe II vorgezogen in dem Wissen, dass weitere Hilfe in Bälde eintreffen wird, entsteht aus ethischer Sicht kein tiefgreifender Konflikt. Einen nicht lebensbedrohlich verletzten/erkrankten Menschen eine kurze Zeit (eventuell auch unter Schmerzen) warten zu lassen, damit man einem anderen das Leben retten kann, scheint ein vergleichsweise geringes Opfer. Anders verhält es sich, wenn dem Betroffenen aus Gruppe II durch den Zeitverzug erhebliche Folgeschäden drohen.

Bei der Begründung, dass die Rettung von Leben schwerer wiegt als bleibende Schäden zu verhindern, handelt es sich um eine schadensbezogene Deutung, bei der man beispielsweise den Verlust von Gliedmaßen dem Verlust des Lebens unterordnen würde.

Solche Entscheidungen übersteigen die Alltagsmoral und die individuelle Entscheidungsfähigkeit und können aus ethischer Sicht niemandem, weder Patient*innen noch Mediziner*innen und schon gar nicht Menschen in Extremsituationen zugemutet werden.

Noch deutlicher wird der ethische Konflikt bei der Betrachtung der Gruppe IV. Dabei muss zunächst bemerkt werden, dass die Bezeichnung „ohne Überlebenschance“ missverständlich wirken kann. Bei Patient*innen dieser Kategorie handelt es sich nicht ausschließlich um Menschen, die sichere Todeszeichen (Leichenflecke, Leichenstarre) oder mit dem Leben unvereinbare Verletzungen zeigen und deren Behandlung somit „sinnlos“ ist. Vielmehr wird bei der Kategorisierung in Gruppe IV auch die jeweilige Gesamtsituation von Ort betrachtet. Wenn beispielsweise Ressourcen zur Behandlung am Unfallort überhaupt nicht oder nicht in ausreichender Menge vorhanden sind, muss eventuell ein Mensch, der bei hohem Mitteleinsatz gute Überlebenschancen hätte, in die Gruppe IV eingeordnet werden. Diesbezügliche Überlegungen in der Literatur beziehen sich oft auf „Rettung ohne unvernünftig hohen Einsatz von Mitteln“, wobei das angewendete Kriterium die Effizienz ist.

Die Frage, ob Effizienz als Kriterium ethisch erwünscht sein kann, lässt sich anhand folgenden Beispiels verdeutlichen: Ein großes Passagierschiff beginnt mitten auf dem offenen Ozean zu sinken und das maximale Tragegewicht der Rettungsbote reicht nicht aus, um alle Passagiere zu retten. Wäre es in einem solchen Fall vertretbar - entsprechend des oben genannten Effizienzkriteriums - die leichtgewichtigen Passagiere zuerst und die hochgewichtigen nicht einsteigen zu lassen? Selbstverständlich nicht.

Es bedarf anderer Kriterien, weshalb jemand auf seine Rettung verzichten muss, um bei anderem Einsatz der vorhandenen Ressourcen den Gesamtnutzen zu erhöhen.[1][2][3]


Der Ex-Ante-Konsens

Eine Lösung für Dilemmata dieser Art ist der sogenannte Ex-Ante-Konsens mit der Grundidee, solche ethische Fragen schon vor einer Katastrophe/ Schadensereignis zu beantworten. Dabei geht man davon aus, dass die Verteilung der Betroffenheit bei einem Unglück zufällig erfolgt, jeder also mit der gleichen Wahrscheinlichkeit Betroffene(r) sein kann. Daraus ergibt sich für die Gesellschaft der Anreiz, schon im Vorhinein eine Ressourcenverteilung zu bestimmen, die effizient ist und die individuelle, statistische Überlebenschance erhöht.[4]

Triage während der COVID-19 Pandemie

Dass im Fall der COVID-19 Pandemie nicht (ausschließlich) auf den Ex-Ante-Konsens zurückgegriffen werden kann, ergibt sich aus den unterschiedlichen Ausgangssituation: Die Triage geht grundsätzlich davon aus, dass man sich bei einem Massenanfall von Verletzten/Kranken einmalig einen Überblick über die Gesamtsituation verschaffen muss. Gemäß des Ex-Ante-Konsens werden dann die Ressourcen verteilt. Betroffene, die der Kategorie IV zugeordnet werden, können dann eventuell auf Grund tragischer Umstände nicht gerettet werden.

Was aber bedeutet die Triage bei einem stetigen Zufluss an Kranken (wie bei einer Pandemie)? Entweder wird die Frage nach der Gruppenzuordnung bei jedem Erkrankten neu gestellt und gegebenenfalls einem anderen, deren Prognose schlechter ist als die des neu hinzugekommenen aktiv Ressourcen entzogen, oder aber, alle nach Erreichen der Kapazitätsgrenzen neu hinzukommenden Fälle müssten in Gruppe IV eingeordnet werden.

Der Deutsche Ethikrat spricht in einer solchen Situation von der sogenannten Ex-Post-Konkurrenz.[5] Diese stellt aktuell Mediziner*innen weltweit vor hohe ethische Herausforderungen.

Im Folgenden sollen die Empfehlungen von einigen wichtigen Akteuren im zentraleuropäischen Raum kurz vorgestellt werden:

Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI)

Beim Umgang mit COVID-19-Erkrankten in Situationen von Ressourcenknappheit empfiehlt die DIVI ein Verfahren der Priorisierung, in das ausdrücklich auch diejenigen Patient*innen einbezogen werden, bei denen therapeutische und intensivmedizinische Maßnahmen bereits eingeleitet wurden. Dabei mögliche Therapiezieländerungen unterliegen strengen Voraussetzungen, und Vorerkrankungen dürfen nur dann Teil des Priorisierungsprozesses sein, wenn sie unmittelbar mit dem Therapieerfolg in Zusammenhang gebracht werden können. Die Priorisierung richtet sich ausschließlich nach der individuellen medizinischen Prognose und darf nicht den Eindruck erwecken, als würde der Wert eines Menschen bewertet. Auch demographische Kriterien dürfen keine Rolle spielen.[6]


Bundesärztekammer (BÄK)

Auch die BÄK rät im Falle von Ressourcenknappheit zur Priorisierung, wobei betont wird, dass stets “einzelfallbezogene Entscheidungen nach dem Prinzip der Gerechtigkeit auf der Basis von transparenten sowie ethisch und medizinisch-fachlich begründeten Kriterien” getroffenen werden müssen. Besondere Erwähnung findet, dass sich die individuelle Erfolgsaussicht nicht aus Faktoren wie Vorerkrankung oder Behinderung ergibt. Entscheidungen anhand von Schemata oder Algorithmen werden ausdrücklich abgelehnt. In Bezug auf Therapiezieländerungen bei Ressourcenknappheit werden keine genauen Empfehlungen ausgesprochen.[7]


Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI)

Im Unterschied zu ihren deutschen Kolleg*innen beschäftigt sich die ÖGARI nur wenig mit dem Prozess der Priorisierung bei der intensivmedizinischen Behandlung von COVID-19 Patient*innen. Dafür werden konkrete Kriterien genannt, unter denen die Änderung des Therapieziels respektive die Neueinordnung eines/r Erkrankten in Gruppe IV möglich ist. Eine Beendigung der intensivmedizinischen Maßnahmen kann demnach in Betracht gezogen werden, wenn der/die Patient*in “nach bestmöglicher individueller Prognose auf unabsehbare Zeit von Intensivtherapie vital abhängig bleiben wird, während ein/e andere/r Patient*in – gemessen an den zu plausibilisierenden Kriterien für den Beginn einer Intensivtherapie – ein besseres Outcome zu erwarten hätte”.[8]

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)

Die SAMW empfiehlt, ähnlich wie ihre deutschen Kolleg*innen, im Fall der Ressourcenknappheit eine Priorisierung zwischen den Patient*innen durchzuführen. Dabei haben diejenigen Vorrang, „deren Prognose im Hinblick auf das Verlassen des Spitals mit Intensivbehandlung gut, ohne diese aber ungünstig ist; Patienten also, die am meisten von der Intensivbehandlung profitieren”. Ausdrücklich als Kriterium abgelehnt wird ein - gleich wie bemessener - “gesellschaftlicher Wert”. Im Gegensatz zu den deutschen und österreichischen Kolleg*innen wird aber das Alter in die Priorisierung miteinbezogen. In Bezug auf die Neuzuordnung eines bereits unter Therapie befindlichen Menschen in Gruppe IV formuliert die SAMW, dass so entschieden werden soll, dass “die größtmögliche Anzahl von Leben gerettet wird.”[9]

Belgian Society of Intensive Care Medicine (SIZ)

Auch die SIZ empfiehlt eine Priorisierung der Patient*innen, die im Fall von Ressourcenknappheit den Prinzipien der Triage folgen soll. In Verbindung mit weiteren Kriterien können dabei auch das Alter und ernste Vorerkrankungen als Indikatoren für den Beginn bzw. die Aufrechterhaltung von therapeutischen Maßnahmen einbezogen werden. Auf eine Neuzuordnung von Patient*innen in Gruppe IV bei mangelndem Therapieerfolg wird lediglich mit einem Hinweis auf die individuellen, immer wieder zu evaluierenden Krankheitsverläufe Bezug genommen. [10]