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Die Abschottung und nationalen Alleingänge der einzelnen EU-Staatem im Zuge der Corona-Pandemie wurden immer wieder kritisiert. Allerdings gab es auch einige Fälle von Solidaritätsbekundungen und  gegenseitiger Unterstützung zwischen den EU-Staaten. Als Reaktion auf dei verschärfte Versorgungslage in den Nachbarstaaten erklärten sich mehrere deutsche Städte und Bundesländer bereit, schwerkranke Patient*innen aus Frankreich, Italien und den Niederlanden aufzunehmen. In zehn Bundesländern wurden 85 ITS-Betten für Patient*innen aus Italien reserviert und 95 ITS-Betten für Patient*innen aus Frankreich. Insgesamt wurden 44 Patient*innen aus Italien, 130 Patient*innen aus Frankreich und 46 Patient*innen aus den Niederlanden nach Deutschland überführt (Stand 18.06.).[https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/coronavirus-response/coronavirus-european-solidarity-action_en] Die Eine detaillierte Aufschlüsselung der medizinischen, ökonomischen und logistischen Hilfeleistungen von EU-Mitgliedsstaaten untereinander seit Beginn der Pandemie bietet der [https://www.ecfr.eu/solidaritytracker “European Solidarity Tracker”] des Think Tanks ''European Council on Foreign Relations''.
 
Die Abschottung und nationalen Alleingänge der einzelnen EU-Staatem im Zuge der Corona-Pandemie wurden immer wieder kritisiert. Allerdings gab es auch einige Fälle von Solidaritätsbekundungen und  gegenseitiger Unterstützung zwischen den EU-Staaten. Als Reaktion auf dei verschärfte Versorgungslage in den Nachbarstaaten erklärten sich mehrere deutsche Städte und Bundesländer bereit, schwerkranke Patient*innen aus Frankreich, Italien und den Niederlanden aufzunehmen. In zehn Bundesländern wurden 85 ITS-Betten für Patient*innen aus Italien reserviert und 95 ITS-Betten für Patient*innen aus Frankreich. Insgesamt wurden 44 Patient*innen aus Italien, 130 Patient*innen aus Frankreich und 46 Patient*innen aus den Niederlanden nach Deutschland überführt (Stand 18.06.).[https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/coronavirus-response/coronavirus-european-solidarity-action_en] Die Eine detaillierte Aufschlüsselung der medizinischen, ökonomischen und logistischen Hilfeleistungen von EU-Mitgliedsstaaten untereinander seit Beginn der Pandemie bietet der [https://www.ecfr.eu/solidaritytracker “European Solidarity Tracker”] des Think Tanks ''European Council on Foreign Relations''.
  
====Zivilgesellschaftliche Debatte um Triage====
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===Zivilgesellschaftliche Debatte um Triage===
  
 
In den Blickpunkt der Öffentlichkeit geriet das Thema Triage in Deutschland, als Ende März Berichte über die Überlastung der Gesundheitssysteme in Frankreich und Italien bekannt wurden. Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Bericht, den das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin im Auftrag der Landesregierung Baden-Württemberg über die Situation an der Universitätsklinik Straßburg geschrieben hatte. Dem Bericht zufolge wurden Patient*innen über 80 Jahren seit dem 21. März nicht mehr beatmet und stattdessen mit Opiaten und Schlafmitteln sediert. Um die Anzahl der Erkrankten zu stemmen, müssten auch mit dem Coronavirus infizierte Mediziner*innen und Pfleger*innen weiterarbeiten. Erst beim Auftreten von Symptomen sei es dem Personal gestattet, die Arbeit zu unterbrechen.[https://www.tagesspiegel.de/wissen/patienten-ueber-80-jahre-werden-nicht-mehr-beatmet-deutsche-katastrophenaerzte-verfassen-alarmbericht-ueber-strassburg/25682596.html] Die Universitätsklinik Straßburg widersprach der Darstellung des DIFKM und betonte, dass nicht alleine das Alter, sondern der Gesundheitszustand insgesamt entscheidend dafür sei, ob ein*e Patient*in weiter beatmet wird.[https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/suedbaden/dramatische-zustaende-uniklinik-strassburg-100.html] Außerdem seien bereits neue Intensivkapazitäten geschaffen worden. Das DIFKM nahm den Bericht zum Anlass, auch für deutsche Krankenhäuser bessere Vorbereitungen zu fordern.
 
In den Blickpunkt der Öffentlichkeit geriet das Thema Triage in Deutschland, als Ende März Berichte über die Überlastung der Gesundheitssysteme in Frankreich und Italien bekannt wurden. Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Bericht, den das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin im Auftrag der Landesregierung Baden-Württemberg über die Situation an der Universitätsklinik Straßburg geschrieben hatte. Dem Bericht zufolge wurden Patient*innen über 80 Jahren seit dem 21. März nicht mehr beatmet und stattdessen mit Opiaten und Schlafmitteln sediert. Um die Anzahl der Erkrankten zu stemmen, müssten auch mit dem Coronavirus infizierte Mediziner*innen und Pfleger*innen weiterarbeiten. Erst beim Auftreten von Symptomen sei es dem Personal gestattet, die Arbeit zu unterbrechen.[https://www.tagesspiegel.de/wissen/patienten-ueber-80-jahre-werden-nicht-mehr-beatmet-deutsche-katastrophenaerzte-verfassen-alarmbericht-ueber-strassburg/25682596.html] Die Universitätsklinik Straßburg widersprach der Darstellung des DIFKM und betonte, dass nicht alleine das Alter, sondern der Gesundheitszustand insgesamt entscheidend dafür sei, ob ein*e Patient*in weiter beatmet wird.[https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/suedbaden/dramatische-zustaende-uniklinik-strassburg-100.html] Außerdem seien bereits neue Intensivkapazitäten geschaffen worden. Das DIFKM nahm den Bericht zum Anlass, auch für deutsche Krankenhäuser bessere Vorbereitungen zu fordern.

Version vom 24. Juni 2020, 14:30 Uhr

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Verschwörungstheorien

Definition

Versuch ein komplexes, unerklärliches Ereignis durch eine Verschwörung zu erklären und dadurch besser zu verstehen, es weniger komplex zu machen und mehr Kontrolle darüber zu gewinnen. Meistens richtet sich die Verschwörung gegen den Staat bzw. Personen(-gruppen) in Machtpositionen, wobei es sich nicht um wissenschaftlich nachgewiesene Theorien handelt.[1]

Verschwörungstheorien als Krisensymptom

Verschwörungstheorien werden bereits seit der Antike überliefert, fanden allerdings zur Zeit der französischen Revolution und besonders seit dem zweiten Weltkrieg mehr Anklang.[2]

Dies hat verschiedene Gründe: Im Zeitalter der Aufklärung beginnen die Menschen sich auf die Vernunft und die Naturwissenschaften zu beziehen. Die bisherigen Deutungsmuster und Traditionen werden hinterfragt. Es wird nicht mehr einfach alles hingenommen. Außerdem entfällt die Erklärung alles Unbekanntem, „nicht-Erklärbarem“ durch einen allmächtigen Gott. Die Menschen besitzen jedoch ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Ordnung und wenn es wenig Kontrollmöglichkeiten und plausible Erklärungen gibt, kann dies auch eine eingebildete Ordnung, wie z.B. eine Verschwörungstheorie, sein.[3]

Des Weiteren können Verschwörungstheorien als ein Krisensymptom aufgefasst werden.[4] Sie bekommen besonderen Zulauf, wenn traditionelle Deutungsmuster nicht mehr greifen. In den letzten Jahren kann man zusätzlich auch von einer „Krise des modernen Subjekts“ sprechen: Für Individuen wird es aufgrund von kaum mehr miteinander zu verbindenden Lebensbereichen zunehmend erschwert eine befriedigende Selbstwahrnehmung auszubilden. Hinzu kommen der Druck zur Mobilität, der die Beständigkeit sozialer Bindungen untergräbt, sowie durch moderne Kommunikationswege massenhafte, aber wenig verbindliche Kontakte. Außerdem gibt es eine Vielfalt an Wahlmöglichkeiten zwischen weit auseinanderliegenden Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen, die, vor Allem durch die zunehmende Digitalisierung, eine besondere Form der Urteilskraft und Orientierungsfähigkeit fordern.

Verschwörungstheorien bieten also einen Rückzug auf einfache Welterklärungen mit wenig Komplexität und auch die Entlastung von der Verantwortung für eigene Entscheidungen.[5]

Corona-Verschwörungen und ihre Akteure

Das neuartige Corona-Virus bietet Verschwörungstheorien einen idealen Nährboden. Dadurch, dass genauer Ursprung und Verlauf des Virus mit vielen Unsicherheiten verbunden waren und sind, entstanden rasch wilde Spekulationen. Dabei ließ sich auch allgemeiner, bereits vorhandener Unmut auf den Umgang mit Covid-19 übertragen. So ist die Hochkonjunktur von Verschwörungstheorien, die sich in den letzten Wochen und Monaten beobachten ließ, wenig verwunderlich.

Verschwörungstheorien und -theoretiker*innen genau zu identifizieren und zu kategorisieren ist ein schwieriges Unterfangen. Das Corona-Virus kursiert weiterhin und wird uns zweifellos längere Zeit beschäftigen. So entwickeln sich auch die Theorien im Umlauf weiter, ebenso die Zahl ihrer Anhänger*innen. Eine nähere Untersuchung der aktuellen Theorien und Akteur*innen soll dennoch in Anlehnung an eine kleine Überblicksstudie des Spiegels erfolgen, die am 21.05.2020. veröffentlicht wurde.[6] Am Ende des Artikels geben die Autor*innen Einblick in ihre Quellen und Methodik. Gezielt wurde nach Corona-Videos mit großer Reichweite gesucht. Die 40 meist verbreiteten wurden analysiert, daraus dann Schlüsse gezogen.

So macht der Spiegel als beliebteste Themenkomplexe Zwangsimpfung, die Rolle von Bill Gates (Unterstellung von wirtschaftlichen und machtpolitischen Ambitionen), sowie die QAnon-Theorie aus. Diese besagt laut Deutschlandfunk[7] grob zusammengefasst, eine Elite aus demokratischer Partei, Banken, Medien etc. herrsche heimlich über die USA und mache sich dabei unter anderem des Kinderhandels schuldig. Das Corona-Virus sei zweifellos beteiligt. Welche Rolle es genau spielt bleibe jedoch unklar: Manch einer innerhalb der Bewegung leugne das Virus, andere verstünden es als absichtlich eingesetzte Bio-Waffe.

Generell scheint Uneinigkeit zwischen den einzelnen Theorien und ihren Akteur*innen zu bestehen. Im Netz lassen sich problemlos weitere Inhalte finden. Beispielsweise kursiert die Angst vor Zwangssterilisierung durch einen obligatorischen Impfstoff, an dem sich Auserwählte bereichern könnten. Auch ein perfider Plan zur Reduzierung der Weltbevölkerung wird dahinter vermutet. Ebenfalls die bekannten Ängste vor Diktatur, Globaler Überwachung oder verdecktem Streben nach Weltherrschaft fungieren als Verschwörungstheorien, die das Corona-Virus zu durchschauen meinen. Rechte Stimmen befürchten darüber hinaus eine „Asylflucht” im Schatten von Corona.

So heterogen wie der Pool der Verschwörungstheorien ist auch der der Akteur*innen. Eine besonders schnelle Verbreitung haben etwaige Inhalte insbesondere durch die Social-Media-Kanäle von Prominenten wie Attila Hildmann oder Xavier Naidoo erhalten, die eine überdurchschnittliche Reichweite vorweisen. Doch auch ein kleiner Kreis von Journalist*innen und Wissenschaftler*innen die das Virus verharmlosen ist an dieser Stelle zu nennen. Zwar sind beispielsweise Sucharit Bhakdi, Wolfgang Wodarg, Rolf Kron oder Claus Köhnlein nicht per se Verschwörungstheoretiker. Sie verleihen aber jenen Legitimität, von denen sie sich interviewen lassen, verbreiten falsche Fakten und vertreten meist eigene Interessen. Auch die „Alternativen Medien“ befeuern Verschwörungstheorien rund um das Corona-Virus auf signifikante Weise. Plattformen wie „Compact“, „Schrang.tv“, „Ken FM“, „Klagemauer.tv“ oder „Wissensmanufaktur“ liefern regelmäßig neue Inhalte, die Halbwahrheiten oder schlichtweg Falschinformationen enthalten. Neulinge und etablierte Verschwörungstheoretiker, manch einer meint momentan die „Wahrheit“ hinter Covid-19 erkannt zu haben. Eine erhöhte Verbreitung, die auf Resonanz trifft.

Verbreitung und Mobilisierung

Der Soziologe und Politologe Michael Schetsche beschreibt in dem Kapitel „Die ergoogelte Wirklichkeit“ aus seinem Buch „Die Google Gesellschaft“ vier Ursachen für den wachsenden Glauben an Verschwörungstheorien. Als erstes führe die wachsende machtpolitische Bedeutung von Informationen und deren Geheimhaltung zu einer wachsenden Spekulation über Geheimnisse. Daraus folgt ein zunehmendes Misstrauen gegenüber der staatlichen Orientierung an ethischen Grundsätzen und die schwindende Legitimität dieser. Eine Demention der Verschwörung führt hier auch oft zu einem stärkeren Gefühl des „Rechthabens“. Außerdem führt, so Schetsche, die einst wissenschaftliche, konstruktivistische Denkweise in der Gesellschaft zu einer Auflösung der ehemals festen Trennlinien zwischen „tatsächlich“, „wahrscheinlich“ und „vorstellbar“ in den kollektiven Diskursen und Wirklichkeitsmodellen. Letztlich führen die komplexer werdenden sozio-politischen Prozesse und das mangelnde Verständnis dieser zu alternativen Erklärungsmustern.[8]

Schetsche betont auch die Rolle der Netzwerkmedien in diesem Prozess. Während früher die Massenmedien als klar definierte Produzenten eine Verantwortung für den Effekt und die Richtigkeit der verbreiteten Inhalte hatten, wurde diese Trennung von Produzent*innen und Rezipient*innen durch das Internet und soziale Netzwerkmedien wie Twitter und Facebook aufgehoben. Heute kann jeder sowohl Empfänger*in als auch Versender*in von Inhalten sein, welche dadurch keine Zensur nach journalistischen Standards erfahren. Somit unterliegen sie keiner ökonomischen (Vertrauen der Leser*innen und Image des Konzerns) oder redaktionellen (Fakten) Selektionslogik und es können frei Informationen enthalten oder dazu erfunden werden.[9] Der Autor erklärt auch die Rolle von Suchmaschinen wie Google, die einem, den eingegeben Wörtern entsprechend, zahllose Ergebnisse liefern, aus denen frei gewählt und kombiniert werden kann. Das erleichtert die Konstruktion individuell motivierter Erklärungsmuster und das Auffinden von Schnittstellen mit realer Wissenschaft und anerkannten Deutungen enorm. Diese Vermischung von Fakten und Wirklichkeit lässt die Erzählungen legitimer wirken und beruft sich zum Teil auch auf anerkannte Expert*innen. Die Unüberprüfbarkeit von Autor*innen und Inhalten erschweren die Unterscheidung zwischen Wissenschaftler*innen, Laien und Interessierten, oder auch ideologischen Hintergründen zunehmend.[10]

Die Extremismusforscherin Julia Ebner erklärte in einem Interview Gründe,[11] warum gerade die Corona Pandemie diesen peripheren Deutungsmustern so in die Hände spielen. Sie erklärt, dass die Menschen durch den Lockdown und die Kurzarbeit mehr Zeit zu Hause und im Internet verbringen. Verbunden mit den Ängsten, die die Unsicherheit rühren und der Tatsache, dass diese Pandemie die erste Krise mit einer ausgeprägten Präsenz und Wirkung von sozialen Netzwerkmedien ist, zeigt sich schnell, wie der enorme Zulauf zu erklären ist.

Die Vermischung von realen und fiktiven „Fakten“ und Deutungsmustern wurde bereits als rhetorisches Mittel der Verbreitung genannt. Hinzu kommen Phrasen der Emotionalisierung und Dramatisierung wie „Angst & Schrecken“ und „Impfdiktatur“, oder Pauschalisierungen wie „Pharmafirma“ und „Regierenden“. Das „Argumentum ad iudicum“, also das berufen auf den Menschenverstand, wird auch häufig verwendet, in dem ein Sachverhalt so weit vereinfacht wird, dass die resultierenden Maßnahmen oder Prozesse absurd wirken und so mit reinem Menschenverstand zu hinterfragen und kritisieren seien. Meist wird relativierendes Vokabular (vermeintlich, wahrscheinlich, angeblich, usw.) gegenüber den „Verschwörer*innen“, sowie bestärkendes Vokabular (sicher, faktisch, eindeutig) und Entlarvungswörter („Klartext reden; endlich, sagen was Sache ist“) bezüglich der eigenen Äußerungen verwendet. Außerdem findet man häufig Negationen („Es gibt keine Pandemie“), Neologismen und Dysphemismen („Lügenpresse“, “Staatsterrorismus“, “Monstervirus“), welche den Sachverhalt entweder verharmlosen oder übertreiben sollen, je nachdem, was gerade nötig ist.[12]

Die jedoch häufigsten rhetorischen Werkzeuge von Verschwörungserzähler*innen sind die Konjunktive und die Äußerung mittels Fragestellung. Konjunktive als Modus von Verben beschreiben den Bereich des Möglichen und werden daher auch Möglichkeitsform genannt. Die Verwendung dieses Verbmodus ermöglicht es den „Theoretiker*innen“ die wildesten Behauptungen aufzustellen, ohne sich dabei direkt für die Inhalte verantwortlich zu machen oder rechtfertigen zu müssen, da sie ja nur Äußerungen über Möglichkeiten getätigt hätten. Den gleichen Vorteil hat die Fragestellung, da man hier auch einfach nur Fragen stellt und „man wird ja immerhin noch fragen dürfen!“. Diese Technik findet vor allem bei Prominenten gebrauch, die diese alternativen Erklärungen für sich neu entdecken. So werden Fragen gestellt wie „War die Pandemie der Plan von Bill Gates?“. Solche Fragen, vor allem als Überschriften von Postings und oft auch von Artikeln mehr oder weniger legitimer Zeitungen, sollen bereits mit der Überschrift ein Interpretationsmuster suggerieren, durch das dann die darauf folgenden Informationen gefiltert werden. Die humoristisch gemeinte, aber sehr oft zutreffende Medientheorie „Betteridge’s Law of Headlines“ beschreibt diesbezüglich die Tatsache, dass die meisten Fragestellungen in den Überschriften von Zeitungsartikeln (meistens der Boulevardpresse) direkt mit einem „Nein“ beantwortet werden können.

Die genannten technologischen und rhetorischen Mittel, in Verbindung mit den psychologischen und gesellschaftlichen Begebenheiten der Pandemie, machen Verschwörungserzählungen zu attraktiven, alternativen Deutungsmustern, welche die Unsicherheiten und Unzufriedenheiten lindern sollen.

Folgen der Pandemie

Bislang ist es unklar, welche Resonanz Verschwörungstheorien durch die Corona-Krise insgesamt haben werden. Nicht zuletzt durch die "Corona-Demos" in München, Stuttgart und Berlin sah sich die Bundesregierung dazu genötigt, auf die von Verschwörungstheorien ausgehenden Gefahren hinzuweisen. Sie tragen zu einer massiven Polarisierung und Destabilisierung der gegenwärtigen Demokratie anhand der zunehmenden Radikalisierung bei. Die Verschwörungsgläubigen verbreiten oftmals Antisemitismus oder neigen zur Verharmlosung der NS-Diktatur indem sie immer wieder auf die Shoa-Vergleiche zugreifen. Einer der bekanntesten deutschen Verschwörungstheoretiker, Attila Hildmann, schrieb letztens in seiner Instastory: „Früher: Kauft nicht bei Juden, Heute: Kauft nicht bei Hildmann und Naidoo“.[13] In Stuttgart deutete Ken Jebsen, der über 3,2 Millionen Aufrufe in wenigen Tagen für sein Video „Gates kapert Deutschland!“ gesammelt hat, Nationalsozialismus zur Ärzteverschwörung um: „Damals wie heute waren es Ärzte, die Rassengesetze beschlossen und definierten, wer gesund war und wer nicht.“ Auch auf den Gründer der Bewegung „Querdenken711“, Michael Ballweg, scheinen NS-Symbole eine unwiderstehliche Faszination auszuüben. Auf Twitter veröffentlichte er einen Comic mit Bill Gates in SS-Uniform und einem Hakenkreuz aus Spritzen.[14] Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn von der Universität Gießen hält Verschwörungsmythen für untrennbar mit dem Hass auf Juden verwoben. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern dokumentierte mehrere antisemitische Bilder von Demonstranten, die einen gelben Stern mit Inschriften wie „nicht geimpft“ trugen.[15]

Verschwörungstheorien verbreiten sich in der Corona-Krise noch schneller als sonst. Die Falschnachrichten werden in den Messengern WhatsApp und Telegram oder in sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram, TikTok tausendfach geteilt. Nahezu alle diese Kanäle haben Nutzer dazugewonnen, manche konnten ihr Publikum während der Pandemie sogar vervierfachen. Der Sänger Xavier Naidoo ist mittlerweile einer der wichtigsten Influencer unter den Verschwörungsgläubigen. Über 60.000 Abonnenten hat sein Channel auf Telegram; der Mannheimer postet dort nahezu pausenlos. Der WhatsApp-Mutterkonzern Facebook ging Anfang April einen drastischen Schritt ein: Er schränkte in seinem Messenger das massenhafte Weiterleiten von Nachrichten prinzipiell ein. Seine Nutzer warnte er davor, ungeprüft Nachrichten zu Corona weiterzuleiten, und verlinkte sie mit Faktenchecks. TikTok versucht, per verdeckter Moderation bestimmte Videos herauszufiltern. Sie werden zwar nicht gelöscht, bleiben jedoch für andere Nutzer weitgehend unsichtbar. Zudem empfiehlt die Plattform ebenso wie die Konkurrenz von Facebook und Twitter aktiv die Accounts der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Obwohl die Covid-19-Verschwörungstheorien enormen Aufwind haben, sind sie meistens kein Fall für den Verfassungsschutz, denn sie verfolgen nicht das Ziel wesentliche Verfassungsgrundsätze oder Grundrechte außer Kraft zu setzen. In bestimmten Bereichen gibt es allerdings ein deutliches Übergangsfeld. Ein Beispiel dafür ist «QAnon», eine Verschwörungstheorie aus den USA, die eine antisemitische Narrative (Weltverschwörung einer jüdischen Finanzelite) bedient.[16]

Einzelnachweise

1. Anm.: eine einheitliche Definition gibt es nicht, daher habe ich versucht zu definieren, was allgemein darunter verstanden wird mit Hilfe gängiger Quellen: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Verschwörungstheorie (Stand: 13.06.2020 14:53); Dwds: https://www.dwds.de/wb/Verschwörungstheorie (Stand: 13.06.2020 15:55).

2. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Verschwörungstheorien (Stand: 14.06.2020 17:53).

3. https://www.zeit.de/2020/21/verschwoerungstheorien-corona-angst-kontollverlust-misstrauen (Stand 13.5.2020); Jennifer A. Whitson, Adam D. Galinsky: „Lacking Control Increases Illusory Pattern Perception” in: Science Oct. 3, 2008: New Series Vol. 322, No. 5898, pp. 115-117.

4. Wolfgang Wippermann: Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute. be.bra. Verlag, Berlin 2007, S. 160–163.

5. Karl Hepfer: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. transcript, Bielefeld 2015, S. 17 ff.

6. https://www.spiegel.de/netzwelt/web/corona-verschwoerungstheorien-und-die-akteure-dahinter-bill-gates-impfzwang-und-co-a-2e9a0e78-4375-4dbd-815f-54571750d32d

7. https://www.deutschlandfunk.de/verschwoerungsmythen-die-bewegung-qanon-wird-zur-religion.886.de.html?dram:article_id=478337

8. Michael Schetsche - https://www.transcript-verlag.de/chunk_detail_seite.php?doi=10.14361%2F9783839407806-013 -S.116

9. ebenda S. 117

10. ebenda S. 118

11. Julia Ebner - https://www.vorwaerts.de/artikel/extremismusforscherin-einige-verschwoerungstheorien-unmittelbar-gefaehrlich (Beitrag einer SPD-nahen Zeitung).

12. Carina D. Bukenberger, Rhetorik M.A: https://leonarto.de/2020/03/12/die-rhetorik-der-verschworungstheoretikerinnen-am-beispiel-des-coronavirus-2020/

13. https://www.welt.de/kultur/plus208010189/Hildmann-Co-Veganer-und-Verschwoerungstheorien-das-passt-zusammen.html?cid=onsite.onsitesearch

14. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus208034401/Corona-Demos-Fantasien-einer-gegen-das-deutsche-Volk-gerichteten-Weltverschwoerung.html

15. https://www.welt.de/debatte/kommentare/article208136813/Volker-Ullrich-Der-Kampf-gegen-Antisemitismus-ist-Buergerpflicht.html?cid=onsite.onsitesearch

16. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus207687573/Fake-News-in-der-Corona-Krise-Die-taegliche-Dosis-Luegen.html

Fernlehre und Digitales Lernen

Auswirkungen von Covid 19 auf Kunst- und Kulturszene

Ökologische Kommunikation und Soziologie des Risikos nach Luhmann

von Daniel Stich und Şermin Güven-Griemert

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann (1927-1998) entwarf eine Theorie, die jeden Bereich der Gesellschaft erklärbar machen sollte. Dabei legt er besonderen Wert auf Kommunikation als Modus, durch den sich Systeme gemäß ihrer eigenen Logik der Komplexitätsreduktion konstituieren und aufrecht erhalten. Mit Blick auf die Covid-19 Pandemie, wird im Folgenden seine Theorie der Ökologischen Kommunikation ausgeführt und sein Risikobegriff dargestellt. Lesenden sollen auf diese Weise eine Möglichkeit erhalten, sich eine Vorstellung von seiner Blickweise auf die Ereignisse unserer Zeit zu bilden.

Zur Person Niklas Luhmann

“Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsschwerpunkte zu benennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine."(Luhmann 1997 zitiert in Schäfers 2013: 215f.)

Der 1927 geborene und 1998 verstorbene Niklas Luhmann erlangte mit seinem Lebenswerk, einer Systemtheorie der Gesellschaft Weltberühmtheit in der Soziologie. Dabei war er von Haus aus eigentlich kein Soziologe sondern Jurist und arbeitete nach dem zweiten Staatsexamen zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg und im niedersächsischen Kultusministerium. Für ein Ergänzungsstudium besuchte er 1960/61 die Harvard University, wo er Talcott Parsons kennen lernte. Diese Begegnung sollte ihn nachhaltig prägen; wenige Jahre später, 1964, erschien Luhmanns erster grundlegender Beitrag, funktionale Methode und Systemtheorie, zu seinem spezifischen Ansatz der Systemtheorie. Dass Luhmann in der Entwicklung seiner Theorie dabei von seiner Vergangenheit geprägt war und verwalterisch vorgegangen ist - seine Gedanken bspw. in Zettelkästchen sortiert und vor allem theoretisch gearbeitet, eben viel gelesen und geschrieben hat, hat zum besonderen Charakter seines Werks als Synthese vieler verschiedener Theorien sicherlich beigetragen. Luhmann hat nach Funktionen, Differenzen und Schablonen gefragt und so eine Systemtheorie der Gesellschaft entwickelt. (Schäfers 2013: 214ff., Stichweh 2019)


Grundlagen der Luhmann’schen Systemtheorie

Während der systemtheoretische Ansatz von Talcott Parsons akteurzentrisch geprägt war, also danach fragte welche Funktionen die einzelnen Elemente eines Systems für dessen Struktur und Erhalt hatten, stellte Luhmann die Strukturen und Systeme selbst in den Mittelpunkt seiner Theorie. Nicht minder funktionalistisch, aber weitaus weniger normativ als Parsons Systemtheorie, entstehen und entwickeln sich im Luhmann’schen Verständnis Systeme, um Komplexität zu reduzieren. Die Welt ist komplex und eben in der Reduktion der Komplexität auf differente Strukturen und binäre Codes, kurz gesagt auf einen simplen Sinn, ermöglichen Systeme soziales Handeln.

Indem er den Fokus auf diese Systeme legt und sie als den einzelnen Elementen und ihren Interaktionen übergeordnete Determinanten begreift, begegnet Luhmann dem Problem, dass der “Gesamtablauf und das Funktionieren großer (sozialer) Systeme [...] sich nicht allein aus der Analyse seiner Teileinheiten [...] hinlänglich verstehen und erklären [lässt] - das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Einzelteile.” (Pries 2014: 140) Erst durch die Analyse der Systeme in ihrer Ganzheit, ihrer jeweiligen Funktionen und Zusammensetzung lassen sich Rückschlüsse auf soziale Situationen, Sachlagen und Realitäten schließen. Nach Luhmann fungieren solche Systeme autopoietisch, d.h. sie grenzen sich von ihrer Umwelt ab, indem sie ihre eigenen ‘Regeln’ in Form binärer Codes (z.B. System Politik: Macht/keine Macht) zur Komplexitätsreduktion erzeugen und sich und ihre Elemente im Rahmen dieser Regeln organisieren und reproduzieren. (vgl. Schäfer 2013: 220)

Eine besondere Rolle in diesem selbstreferentiellen Operieren sozialer Systeme kommt hier der Kommunikation zu, die Luhmann nicht als Verständigung zwischen zwei Personen versteht, sondern im Sinne ihres abstrakten Charakters begreift, also Verständnis und entsprechende Anschlussfähigkeit im Form von weiterer Kommunikation in den Blick nimmt. So treten für Luhmann’s “Theorie funktional differenzierter sozialer Systeme [...] hier Prozesse des selbstbezüglichen Operierens sozialer Systeme mittels generalisierter Kommunikationsmedien und ausdifferenzierter Codes und Programme in den Blick.” (Scherr 2018: 233)

Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? (1986)

Kontext zum Werk: Luhmanns Werk kann als eine Einführung zu seiner Systemtheorie verstanden werden. Erschienen ist das Werk parallel im selben Jahr der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986. Im gleichen Jahr erschien auch von dem deutschen Soziologen Ulrich Beck das Werk Risikogesellschaft. Ebenso wie Beck (1986) sieht die in den 1980er Jahren zunehmend bedeutende ökologische Bewegung ökologische Probleme als gesellschaftlich begründet. Dahinter steht eine Dichotomie, die Gesellschaft als Täter und die Natur als Opfer versteht: es wird festgestellt, dass ökologische Probleme bestehen und Menschen dafür verantwortlich sind - daher soll eine Lösung in eine Veränderung der Gesellschaft liegen.

Auch für Luhmann ist klar, dass diese Probleme real sind und durch die Gesellschaft ausgelöst werden:

„Auf sehr verschiedene Weise fühlt die heutige Gesellschaft sich durch Effekte rückbetroffen, die sie in ihrer Umwelt selbst ausgelöst hat. Man denke an den zunehmend raschen Verbrauch nicht wiederherstellbarer Ressourcen, also auch (selbst wenn dies gelänge) an die zunehmende Abhängigkeit von selbsterzeugten Substituten; ferner an die Reduzierung der Artenvielfalt als Voraussetzung weiterer biologischer Evolution; sodann an die jederzeit mögliche Evolution medizinresistenter, also nicht mehr bekämpfbarer Krankheitserreger; weiter an die bekannten Probleme der Umweltverschmutzung; und nicht zuletzt: an die Überbevölkerung des Erdballs. All dies sind heute Themen gesellschaftlicher Kommunikation. Wie nie zuvor alarmiert die heutige Gesellschaft sich selbst […]" (Luhmann 2004:11)

Zudem war aus seiner Sicht die Soziologie auf diese Situation unvorbereitet, denn sie beschäftigte sich bisher mit innergesellschaftlichen Perspektiven und hatte seit ihrer Begründung die Natur den Naturwissenschaften überlassen (Luhmann 2004:12).

Allerdings sieht Luhmann die “Selbst-Alarmierung” der Gesellschaft kritisch. Er stellt fest, dass es seit den 1960er Jahren ein zunehmendes gesellschaftliches Bewusstsein für Umweltproblematiken gebe, die Gesellschaft sich aber selbst alarmiere, ohne über ausreichende kognitive Mittel der Prognose und Praxisanleitung zu verfügen (Luhmann 2004:11). Es gebe keine Roadmap für einen rationalen Umgang und einer sinnvolle Lösung ökologischer Probleme. Die Theoriediskussion über Ökologie hat laut Luhmann starke Defizite und es würde versucht dies mit moralischem Eifer zu kompensieren. Eine neue Umweltethik wird von vielen gefordert:

"Die Absicht der Demonstration guter Absichten bestimmt die Formulierung der Probleme. So diskutiert man aufs Geratewohl über eine neue Umweltethik, ohne die Systemstrukturen zu analysieren, um die es geht" (Luhmann 2004:19)

Die eigene Gesellschaft werde heftigster Kritik ausgesetzt und mit Interventionsforderungen überzogen, als ob sie kein System wäre (Luhmann 2004:20). Die Problematik ökologischer Probleme lässt sich nicht allein auf Probleme des Gesellschaftssystems zurückführen, da hierbei externe Probleme kaum beachtet werden, obwohl jedes Systemproblem letztlich auf der Differenz von System und Umwelt zurückzuführen ist (Luhmann 2004:13).

Warum eine Ökologische Problemlösung so schwer ist, erklärt Luhmann anhand der Komplexität der modernen Gesellschaft und der zentralen Bedeutung von Kommunikationsfähigkeit.

"Die Gesellschaft besteht aus nichts anderem als aus Kommunikationen, und durch die laufende Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation grenzt sie sich gegen eine Umwelt andersartiger Systeme ab. Auf diese Weise wird durch Evolution Komplexität aufgebaut." (Luhmann 2004:23)

Für ihn basiert die moderne Gesellschaft auf Kommunikation und ist in unterschiedliche Funktionssysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik etc.) ausdifferenziert. Diese Subsysteme wiederum unterscheiden sich durch das Medium und den daraus folgenden Code ihrer Kommunikation. Für Luhmann operieren alle diese Subsysteme nach einem binären Code bzw. Sprache.

  • Das Medium der Wirtschaft ist Eigentum und Geld, ihr binärer Code unterscheidet zwischen Haben/Nichthaben.
  • Das Medium der Wissenschaft ist wissenschaftliches Erkenntnis, ihr binärer Code unterscheidet zwischen wahr/unwahr.
  • Das Medium der Politik ist Konkurrenz um Macht und öffentliche Ämter, ihr binärer Code unterscheidet Regierung/Opposition.

Ein zentrales Problem ist die Kommunikationsfähigkeit der verschiedenen Funktionssysteme untereinander und ähnliche Schwierigkeiten bestehen in der ökologischen Kommunikation. Da laut Luhmann ökologisches Bewusstsein nicht direkt zu einer wirksamen gesellschaftlichen Kommunikation führt kann die Lösung von Umweltproblemen nicht in neuen Wertvorstellungen liegen:

"Erst wenn, aus Gründen, die nicht einem Bewußtsein zugerechnet werden können, ökologische Kommunikation in Gang kommt und die Autopoiesis gesellschaftlicher Kommunikation mitzubestimmen beginnt, kann erwartet werden, daß Themen dieser Kommunikation mehr und mehr auch Bewußtseinsinhalte werden" (Luhmann 2004:64–65).

Eine Theorie der Gesellschaft muss sich an der Differenz von Gesellschaftssystem und Umwelt orientieren. Solange gesellschaftlich nicht darüber kommuniziert wird, spielen Fakten wie Waldsterben, Verschmutzung keine Rolle - sie erzeugen nicht automatisch Resonanz (Luhmann 2004:63). Kommunikation ist eine exklusiv gesellschaftliche Operation - die Umwelt des Gesellschaftssystems hat aber keine Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren, sie kann es nur irritieren:

"Die Umwelt kann sich nur durch Irritationen oder Störungen der Kommunikation bemerkbar machen, und diese mug dann auf sich selbst reagieren; so wie ja auch der eigene Leib sich dem Bewußtsein nicht über Bewusstseinskanäle mitteilen kann, sondern nur durch Irritationen, Druck- und Belastungsgefühle, Schmerzen etc., also nur in einer fiir das Bewusstsein resonanzfähigen Weise."(Luhmann 2004:63)

Bewusstseinssysteme müssen sich den gesellschaftlichen Bedingungen der Kommunikabilität fügen, ansonsten sind sie wie ein Rauschen (Luhmann 2004:65). Die Schlüsselfrage ist, wie Umweltprobleme in der gesellschaftlichen Kommunikation Resonanz finden können, wenn das Gesellschaftssystem in Funktionssysteme gegliedert ist und nur durch Funktionssysteme auf Umweltereignisse und Umweltveränderungen reagieren kann? (Luhmann 2004:75)

Für die einzelnen Funktionssysteme führt Luhmann diese Problematik aus:

Wirtschaft

Der Schlüssel des ökologischen Problems liegt, was die Wirtschaft betrifft, in der Sprache der Preise. Alles was in der Wirtschaft geschieht wird vorher durch die Sprache der Preise gefiltert. Auf Störungen, die sich nicht in dieser Sprache ausdrücken, kann die Wirtschaft nicht reagieren, aber andersherum muss jedes Problem, wenn es in der Sprache der Preise ausgedrückt ist, auch vom System Wirtschaft berücksichtigt werden (Luhmann 2004:122).

Recht

Das Rechtssystem kommuniziert auf Basis von Recht/Unrecht - es kann keine Normen importieren, sondern sie nur aus anderen Normen ableiten (Luhmann 2004:126). Die Ordnungsvorstellungen des Rechts beziehen sich eigentlich auf gesellschaftsinterne Beziehungen (Luhmann 2004:129). Das Umweltrecht frisst sich mit neuartigen Problemstellungen in geläufige Rechtsgebiete ein (Luhmann 2004:131).

Der juristische Umweltdiskurs führt letztlich nur zu einem Schema aus Unterscheidungen zwischen Freiheitsrechten und Zwangsregulierungen, ohne dass Umwelt überhaupt vorkommt (d.h. es ist nur auf den Menschen bezogen) - man ist weit davon entfernt, Bäumen oder anderen Teilen der Natur Rechte einzuräumen (Luhmann 2004:132–33).

Die Willkürkomponente bei umweltbezogenen Rechtsentscheidungen nimmt laut Luhmann deutlich zu. Das wird bei Fragen danach deutlich, wie hoch Grenzwerte angesetzt werden, wie Risiko bewertet wird, welche Präferenzen gesetzt werden, wenn Kausalzusammenhänge bei Umweltproblematiken so komplex und undurchsichtig sind (Luhmann 2004:133).

Wissenschaft

Offensichtlich ist die Gesellschaft als Ganzes weder willens noch in der Lage, das wissenschaftliche Weltbild zu übernehmen. Es ist und bleibt ein bloßes Implikat von Forschung. Was die Wissenschaft real exportiert, ist Selektionsbewusstsein und Technik: Selektionsbewustsein im Hinblick auf noch unbestimmte Rekombinationsmöglichkeiten und Technik als schon bestimmte und realisierbare (Luhmann 2004:165)

Politik

Das politische System ist anderen Funktionssystemen gegenüber nicht übergeordnet, es kann ökologische Probleme ebenso schlecht lösen, da es nicht außerhalb des eigenen Codes handeln kann. Macht und Zwang sind keine geeigneten Mittel um das Verhältnis der Gesellschaft zu ihrer Umwelt zu verändern (Luhmann 2004:174–75). Zudem ist politische Macht territorial beschränkt, die Auswirkungen auf die Umwelt sind aber nicht territorial beschränkt (Luhmann 2004:179)

Zur Soziologie des Risikos

Die 80er Jahre waren allgemein gesellschaftlich sowie natürlich in der akademischen Disziplin der Soziologie davon geprägt, sich infolge des Reaktorunglücks von Tschernobyl 1986, zunehmendem Klima- und Umweltbewusstsein und erwachender Protestbewegungen, mit den Auswirkungen der modernen Gesellschaft auf ihre Umwelt zu befassen. Dementsprechend ging es für die Soziologie nicht mehr nur um die Fragen sozialer Gerechtigkeit und sozialer Auswirkungen moderner Gesellschaftsstrukturen, sondern auch um die umweltbezogenen Risiken und Gefahren moderner Verhaltensweisen. Vor diesem Hintergrund verfasste Luhmann 1991 seine Soziologie des Risikos als Beitrag zur Diskussion um den von Ulrich Beck 1986 geprägten Begriff Risikogesellschaft.

Zur Definition von Risiko

„…von Risiko spricht man nur, wenn eine Entscheidung ausgemacht werden kann, ohne die es nicht zu dem Schaden kommen könnte“ (Luhmann 1991: 25)

Hervorzuheben ist zunächst die explizite Abgrenzung des Luhmann’schen Risikobegriffs von rationalistischen Traditionen, bspw. ökonomischen Theorien zur Kalkulation eines künftigen Schadens. Risiko wird in diesen Theorien Unsicherheit gegenüber gestellt, es gilt Wahrscheinlichkeiten und Ausmaß zu berechnen und durch Entscheidungen zu limitieren, kurz gesagt Sicherheit bzw. nach Luhmann den Schein von Sicherheit zu erzeugen. Vor diesem Hintergrund ist der Risikobegriff im sozialen Kontext nach Luhmann von drei Aspekten geprägt:

  1. Risiko ist an Zeit, genauer gesagt an die Zukunft gebunden. Das Individuum trifft eine Entscheidung, ohne die Konsequenzen dieser wirklich absehen zu können. Die Zukunft ist immer unbekannt, selbst „die Zukunft, die man durch die eigenen Entscheidungen erzeugt.” (Luhmann 1991: 21) Da die Zukunft jedoch eben nur auf eine ganz bestimmte Weise Gegenwart werden kann, muss sie im Zuge der Risikoentscheidung auf eine spezifische Form gebracht werden, “die als solche nie eintreffen wird, nämlich die Form wahrscheinlich/unwahrscheinlich.” (Luhmann 1991: 81) Prinzipiell kann dabei jede Entscheidung unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen, was zum zweiten Aspekt führt.
  1. Mit Risiko ist ein potentieller Schaden verknüpft. Der Risikobegriff ist gemeinhin negativ besetzt, aber Luhmann stellt klar, dass es durch eine Entscheidung “zu einem künftigen Schaden kommen [kann] - oder auch nicht.” (Luhmann 1991: 25) Ob das Schadensereignis eintritt ist ungewiss. Gewiss - im Sinne der Luhmann’schen Begriffsbestimmung - ist lediglich, dass die Beobachter*innen (Luhmann verwendet lediglich die Form Maskulin Singular) wissen werden, was der Fall ist.
  1. Somit muss das Risiko beobachtbar sein. Beobachter*innen sind hier im Kontext der Luhmann’schen Systemtheorie zu verstehen. So kann das beobachtende System zum Zeitpunkt der Beobachtung lediglich eine Seite bzw. Operation beobachten, niemals beide Seiten der binären Unterscheidung, also der zugrunde liegenden Kategorien des Systems zugleich. Vereinfacht gesprochen: “Zukünftiges lässt sich nicht beobachten.” (Luhmann 1991: 83) Erst in einem zweiten Schritt können das System oder Externe eine Beobachtung anstellen, genauer gesagt, eine Beobachtung der ersten Beobachtung zum Zeitpunkt der Entscheidung. Durch diese Beobachtung kann dann die entscheidende Verbindung ausgemacht werden, durch die das Risiko zum Risiko wird, d.h. es wird eine Entscheidung erkannt, ohne die es nicht zu einem möglichen entsprechenden Schaden kommen könnte. Aus diesem “Phänomen mehrfacher Kontingenz“ (Luhmann 1991: 25) heraus ergibt es sich auch, dass Beobachter*innen in ihren Ansichten divergieren können, also eben in ihrer Meinung darüber, ob Entscheidung und Schaden miteinander zusammenhängen bzw. es sich tatsächlich um ein Risiko handelt. Ein Risiko ist also nicht einfach, sondern ist abhängig von der Beurteilung der Beobachter*innen zweiter Ordnung.

Nun liegt es auf der Hand, dass mit jeder Entscheidung ein Schaden verbunden sein kann, dass Schaden immer möglich ist, es also immer Beobachter*innen geben kann, die ‘Risiko’ attestieren. Entsprechend stellt Luhmann fest, dass es „kein risikofreies Verhalten [... gibt, denn] selbstverständlich ist in der modernen Welt auch das Nichtentscheiden eine Entscheidung.“ (Luhmann 1991: 37) Luhmann erklärt in Abgrenzung zu Beck hier auch, dass die Bezeichnung Risikogesellschaft lediglich dahingehend zutreffend ist, als da es nicht um das Ausmaß der in der Moderne geschaffenen Bedrohungen geht (Beck 1986), sondern darum, dass die moderne Gesellschaft auf die Zukunft ausgerichtet und mit einer ständigen Ungewissheit konfrontiert ist.


Die Unterscheidung Risiko / Gefahr

Vor dem Hintergrund der Begriffsdefinition lässt sich nun nachvollziehen, weshalb Luhmann die populäre Unterscheidung Risiko / Sicherheit als zwei Gegenbegriffe für unzureichend hält bzw. „der Sicherheitsbegriff eine soziale Fiktion bezeichnet.“ (Luhmann 1991: 28) Luhmann betont, dass „… wenn man Risiken in den Blick zieht, [...] jede Variante eines Entscheidungsrepertoires, also die gesamte Alternative riskant [ist], und sei es nur mit dem Risiko, erkennbare Chancen nicht wahrzunehmen, die sich möglicherweise als vorteilhaft erweisen werden.“ (Luhmann 1991: 30) Der Sicherheitsbegriff ist für Luhmann also eine Illusion und entlang den Linien seiner Begriffsdefinition, genauer gesagt in Bezug auf die Verknüpfung von Schaden und Entscheidung im Luhmann’schen Sinne des Risikobegriffs, wählt er ‘Gefahr’ als Gegenpol zu ‘Risiko’. Diese Unterscheidung setze voraus, so Luhmann, „daß in Bezug auf künftige Schäden Unsicherheit besteht.” (Luhmann 1991: 30) So ergeben sich zwei Optionen: Entweder wird der Schaden der Entscheidung zugerechnet - dann spricht man von Risiko - oder aber der Schaden wird als extern veranlagt gesehen, also der Umwelt zugerechnet - dann spricht man von Gefahr. Wenn der Schaden also nicht mit den Operationen des Systems von Beobachter*innen verknüpft wird, kann nicht von Risiko die Rede sein, sondern nur von Gefahr. Dabei wird die Gefahr als unberechenbar angesehen, da weder den Beobachter*innen noch dem System selbst eine Entscheidung bekannt wäre, die die Gefahr vermeiden könnte. Auf diese Weise verdeutlicht der Begriff Gefahr, dass eine Entscheidung letztendlich immer ‘riskant’ ist, auch wenn sich das operierende System oder Beobachter*innen dessen nicht bewusst sind.


Problem der Zurechenbarkeit am Beispiel ökologischer Schäden

„Gerade bei ökologisch vermittelten Schäden ist das Überschreiten einer Schwelle, eine irreversible Veränderung ökologischer Gleichgewichte oder der Eintritt einer Katastrophe oft gar nicht auf Einzelentscheidungen zurechenbar. […] Es gibt […] in der Akkumulation von Entscheidungseffekten, in Langzeitauswirkungen nicht mehr identifizierbarer Entscheidungen, in überkomplexen und nicht mehr tracierbaren Kausalverhältnissen Bedingungen, die erhebliche Schäden auslösen können, ohne auf Entscheidung zurechenbar zu sein, obwohl klar ist, daß es ohne Entscheidungen nicht zu solchen Schäden hätte kommen können.“ (Luhmann 1991: 35)

Auch wenn letztlich jede Entscheidung ob der Ungewissheit der Zukunft Gefahren birgt, lässt sich nach Luhmann nur auf zurechenbare Entscheidungen der Begriff Risiko anwenden. Diese Zurechnung kann aber auch externe Beobachter*innen vorgenommen werden und so könnte jede Entscheidung auch mit Risiko in Verbindung gebracht werden, da man “Im Prinzip [...] jeden Schaden durch Entscheidung vermeiden [könnte] (Luhmann 1991:36), insbesondere dann, wenn man Schaden auch ausbleibende Vorzüge beschreibt. “Es gibt kein risikofreies Verhalten” (Luhmann 1991: 37), konstatiert Luhmann. Gleichwohl erkennt er das Problem, dass komplexe und vielseitige Entscheidungslagen in Sozialdimensionen, d.h. im Kommunikationsprozess, bei der sich alle Beteiligten gegenseitig gleichzeitig als Ego und Alter wahrnehmen, und in der Zeitdimension, also dem “Generieren von Strukturen im autopoietischen Prozeß der laufenden Selbsterneuerung des Systems” (Luhmann 1991: 61), dazu führen, dass Gefahren bzw. Schäden nur noch schwer einzelnen Entscheidungen zugerechnet werden können, es aber gleichsam immer Entscheider und Betroffene gibt. Entscheidungen erzeugen sozusagen Betroffene per se, wobei Luhmann feststellt, dass “Mehr und mehr [...] Betroffenheit zur Frage der sozialen Definition” (Luhmann 1991: 116) wird. Wenn nun alle Entscheidungen bei “entsprechend entwickelter Zurechnungsempfindlichkeit” (Luhmann 1991: 118) riskant sind und sich Risiken nicht mehr nur sozial abgegrenzten Kategorien zuordnen lassen, dann wird “das Risiko des einen [... zur] Gefahr für den anderen,” (Luhmann 1991: 119). Dieser Umstand äußert sich bspw. in den ökologischen Gefahren, die in einer Weltgesellschaft mit globaler Kommunikation einen universellen Charakter angenommen haben. Gleichsam muss damit gerechnet werden, “daß die moderne Gesellschaft zu viel auf Entscheidungen zurechnet und dies auch dort tut, wo der Entscheider (Person oder Organisation) gar nicht identifiziert werden kann.” (Luhmann 1991: 130) Für die Problematik, dass die Risiken der Entscheider, andere mitunter zu unvorhersehbar Betroffenen macht, während in komplexen Problemlagen Entscheider nicht mehr konkret ermittelt werden können, findet Luhmann keine abschließende Lösung, fordert aber, dass wir “mit neuen Formen der sozialen Regulierung von Risikoverhalten experimentieren [müssen.]” Denn es stehe fest, “daß es nicht möglich sein wird, dafür auf die alte Vertrauensethik zurückzugreifen, also Vertrauen zu verlangen und zugleich Vorsicht und Umsicht beim Erweis von Vertrauen.” (Luhmann 1991: 134)


Anwendungsbeispiel Covid-19 Pandemie

Der Risikobegriff im Luhmann’schen Sinne macht deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen den Operationen gesellschaftlicher Systeme und der Gefahr einer Pandemie geben muss, selbst wenn die Akteur*innen bzw. Beobachter*innen die verantwortlichen Entscheidungen nicht ausgemacht haben. Es gibt eben kein risikofreies Verhalten nach Luhmann. Tatsächlich finden sich Hinweise auf Kausalzusammenhänge zwischen dem Auftreten neuer Viren und menschlichem Verhalten. Das immer weiter voranschreitende Vorrücken des Menschen in natürliche Lebensräume, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Entwaldung und das rasante Wachstum von Großstädten, hat in den letzten Jahrzehnten immer neue Krankheiten auf den Plan gebracht, in immer kürzeren Intervallen. (Shah 2020) Genauso ließe sich anführen, dass die Reduktion von Krankenhausbetten zum Ausmaß der gegenwärtigen Pandemie beigetragen hat. (Cf. Lambert & Rimbert 2020) Außerdem besteht in der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass die Globalisierung als Phänomen und soziale Realität selbst Risiken hervorbringt. (Eriksen 2014: 133ff.) Die Liste ließe sich fortsetzen und so ließe sich vermuten, dass diese Vielzahl an Entscheidungen, die die Welt in die gegenwärtige Krise geführt haben, sich des Risikos nicht bewusst waren und nun, da die Verbindungen herausgearbeitet wurden, entsprechend zur Risikominimierung angepasst werden. Gleichwohl besteht das Problem, dass es die Summe von vielen einzelnen Entscheidungen ist, die dazu führen, dass die Weltgesellschaft der Gefahr von Pandemien in zunehmendem Maße ausgesetzt ist. So bleibt es anzuzweifeln, dass tatsächlich die entscheidenden Schrauben gedreht werden, zumal da die verschiedenen Systeme auf unterschiedliche Weise die Erkenntnisse des Frühjahrs 2020 in ihre Logik übersetzen. So spielen bspw. im politischen Diskurs wissenschaftliche Erkenntnisse eine untergeordnete Rolle. Impf- wie Quarantänegegner*innen hören bzw. Vertrauen nicht auf das Robert-Koch-Institut. Systeme sind blind gegenüber ihren eigenen Problemen und nehmen Reize aus der Umwelt nur in dem Maße wahr, in dem sie die eigene Logik betreffen. Für einen grundlegenden Wandel bräuchte es einen grundlegenden Bruch mit den alten Systemen.

Quellen

  • Beck, Urlich. Risikogesellschaft. Frankfurt a.M. 1986.
  • Eriksen, Thomas Hylland. Globalization. The Key Concepts. Oxford 2014.
  • Lambert, Renaud. Rimbert, Pierre. The unequal cost of coronavirus. Le Monde diplomatique, April 2020
  • Luhmann, Niklas. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997.
  • Luhmann, Niklas. Soziologie des Risikos. Berlin 1991.
  • Luhmann, Niklas. Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 4. Aufl., Wiesbaden 2004.
  • Pries, Ludger. Soziologie. Schlüsselbegriffe, Herangehensweisen, Perspektiven. Basel 2014.
  • Schäfers, Bernhard. Einführung in die Soziologie. Wiesbaden 2013.
  • Scherr, Albert. Kommunikation. In: Kopp, Johannes / Steinbach, Anja (Hrsg.). Grundbegriffe der Soziologie. Wiesbaden 2018.
  • Shah, Sonia. Accelerating habitat loss behind Covid-19. The microbes, the animals and us. Le Monde diplomatique. März 2020.
  • Stichweh, Rudolf. Niklas Luhmann: Der Theoretiker der Gesellschaft. Niklas-Luhmann-Archiv 2019. URL: https://niklas-luhmann-archiv.de/person/person-und-werk. Aufgerufen am: 9.6.2020

Triage

Ethische Dilemmata der Triage

Autor: Aljoscha Mayer

Auf einer wenig befahrenen Straße kommt es zu einem folgenreichen Unfall. Ein Bus kommt von der Fahrbahn ab und kracht gegen einen Baum. In ihm sitzen dreißig Schüler*innen und ihre Lehrer*innen auf dem Weg zum einen Schulausflug. In Folge des Unfalls werden fast alle Businsassen verletzt. Zufällig kommt ein Rettungswagen mit zwei Sanitäter*innen und einer Ärzt*in vorbei. Sie wissen, auch wenn sie sofort Unterstützung anfordern, wird die Anfahrt von suffizienten Rettungsmitteln längere Zeit in Anspruch nehmen.

Wie sollen sie die Versorgung der über dreißig Verletzten organisieren?

Bei dem beschriebenen Fall handelt es sich um einen sogenannten Massenanfall an Verletzten (MANV), bei dem die individuelle und gleichzeitige Versorgung der Patient*innen auf Grund von fehlenden Kapazitäten (noch) nicht möglich ist. In einem solchen Fall kommt die sogenannte „Triage“ zum Einsatz, ein spezialisiertes Verfahren zur Priorisierung medizinscher Hilfeleistungen. Dabei werden die Verletzten mit Hilfe so genannter Sichtungskriterien in 4 Gruppen eingeteilt:

Gruppe I/Rot – akute, vitale Bedrohung: Sofortbehandlung

Gruppe II/Gelb – schwer verletzt/erkrankt: aufgeschobene Behandlungsdringlichkeit

Gruppe III/Grün – leicht verletzt/erkrankt: verminderte Behandlungsdringlichkeit

Gruppe IV/Schwarz – ohne Überlebenschance: zunächst nachgeordnete Behandlungsdringlichkeit


Das Prinzip, dem die Triage dabei folgt, ist das der Dringlichkeit und der damit verbundenen Interpretation, was im konkreten Fall verschiedene ethische Fragen aufwirft:

Wird die Behandlung eines Patienten aus Gruppe I der Behandlung eines Patienten aus Gruppe II vorgezogen in dem Wissen, dass weitere Hilfe in Bälde eintreffen wird, entsteht aus ethischer Sicht kein tiefgreifender Konflikt. Einen nicht lebensbedrohlich verletzten/erkrankten Menschen eine kurze Zeit (eventuell auch unter Schmerzen) warten zu lassen, damit man einem anderen das Leben retten kann, scheint ein vergleichsweise geringes Opfer. Anders verhält es sich, wenn dem Betroffenen aus Gruppe II durch den Zeitverzug erhebliche Folgeschäden drohen.

Bei der Begründung, dass die Rettung von Leben schwerer wiegt als bleibende Schäden zu verhindern, handelt es sich um eine schadensbezogene Deutung, bei der man beispielsweise den Verlust von Gliedmaßen dem Verlust des Lebens unterordnen würde.

Solche Entscheidungen übersteigen die Alltagsmoral und die individuelle Entscheidungsfähigkeit und können aus ethischer Sicht niemandem, weder Patient*innen noch Mediziner*innen und schon gar nicht Menschen in Extremsituationen zugemutet werden.

Noch deutlicher wird der ethische Konflikt bei der Betrachtung der Gruppe IV. Dabei muss zunächst bemerkt werden, dass die Bezeichnung „ohne Überlebenschance“ missverständlich wirken kann. Bei Patient*innen dieser Kategorie handelt es sich nicht ausschließlich um Menschen, die sichere Todeszeichen (Leichenflecke, Leichenstarre) oder mit dem Leben unvereinbare Verletzungen zeigen und deren Behandlung somit „sinnlos“ ist. Vielmehr wird bei der Kategorisierung in Gruppe IV auch die jeweilige Gesamtsituation von Ort betrachtet. Wenn beispielsweise Ressourcen zur Behandlung am Unfallort überhaupt nicht oder nicht in ausreichender Menge vorhanden sind, muss eventuell ein Mensch, der bei hohem Mitteleinsatz gute Überlebenschancen hätte, in die Gruppe IV eingeordnet werden. Diesbezügliche Überlegungen in der Literatur beziehen sich oft auf „Rettung ohne unvernünftig hohen Einsatz von Mitteln“, wobei das angewendete Kriterium die Effizienz ist.

Die Frage, ob Effizienz als Kriterium ethisch erwünscht sein kann, lässt sich anhand folgenden Beispiels verdeutlichen: Ein großes Passagierschiff beginnt mitten auf dem offenen Ozean zu sinken und das maximale Tragegewicht der Rettungsbote reicht nicht aus, um alle Passagiere zu retten. Wäre es in einem solchen Fall vertretbar - entsprechend des oben genannten Effizienzkriteriums - die leichtgewichtigen Passagiere zuerst und die hochgewichtigen zuletzt einsteigen zu lassen? Selbstverständlich nicht.

Es bedarf anderer Kriterien, weshalb jemand auf seine Rettung verzichten muss, um bei anderem Einsatz der vorhandenen Ressourcen den Gesamtnutzen zu erhöhen.[1][2][3]

Der Ex-Ante-Konsens

Eine Lösung für Dilemmata dieser Art ist der sogenannte Ex-Ante-Konsens mit der Grundidee, solche ethische Fragen schon vor einer Katastrophe/ Schadensereignis zu beantworten. Dabei geht man davon aus, dass die Verteilung der Betroffenheit bei einem Unglück zufällig erfolgt, jeder also mit der gleichen Wahrscheinlichkeit Betroffene(r) sein kann. Daraus ergibt sich für die Gesellschaft der Anreiz, schon im Vorhinein eine Ressourcenverteilung zu bestimmen, die effizient ist und die individuelle, statistische Überlebenschance erhöht.[4]

Triage während der COVID-19 Pandemie

Dass im Fall der COVID-19 Pandemie nicht (ausschließlich) auf den Ex-Ante-Konsens zurückgegriffen werden kann, ergibt sich aus den unterschiedlichen Ausgangssituation: Die Triage geht grundsätzlich davon aus, dass man sich bei einem Massenanfall von Verletzten/Kranken einmalig einen Überblick über die Gesamtsituation verschaffen muss. Gemäß des Ex-Ante-Konsens werden dann die Ressourcen verteilt. Betroffene, die der Kategorie IV zugeordnet werden, können dann eventuell auf Grund tragischer Umstände nicht gerettet werden.

Was aber bedeutet die Triage bei einem stetigen Zufluss an Kranken (wie bei einer Pandemie)? Entweder wird die Frage nach der Gruppenzuordnung bei jedem Erkrankten neu gestellt und gegebenenfalls einem anderen, deren Prognose schlechter ist als die des neu hinzugekommenen aktiv Ressourcen entzogen, oder aber, alle nach Erreichen der Kapazitätsgrenzen neu hinzukommenden Fälle müssten in Gruppe IV eingeordnet werden.

Der Deutsche Ethikrat spricht in einer solchen Situation von der sogenannten Ex-Post-Konkurrenz.[5] Diese stellt aktuell Mediziner*innen weltweit vor hohe ethische Herausforderungen.

Im Folgenden sollen die Empfehlungen von einigen wichtigen Akteuren im zentraleuropäischen Raum kurz vorgestellt werden:

Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI)

Beim Umgang mit COVID-19-Erkrankten in Situationen von Ressourcenknappheit empfiehlt die DIVI ein Verfahren der Priorisierung, in das ausdrücklich auch diejenigen Patient*innen einbezogen werden, bei denen therapeutische und intensivmedizinische Maßnahmen bereits eingeleitet wurden. Dabei mögliche Therapiezieländerungen unterliegen strengen Voraussetzungen, und Vorerkrankungen dürfen nur dann Teil des Priorisierungsprozesses sein, wenn sie unmittelbar mit dem Therapieerfolg in Zusammenhang gebracht werden können. Die Priorisierung richtet sich ausschließlich nach der individuellen medizinischen Prognose und darf nicht den Eindruck erwecken, als würde der Wert eines Menschen bewertet. Auch demographische Kriterien dürfen keine Rolle spielen.[6]

Bundesärztekammer (BÄK)

Auch die BÄK rät im Falle von Ressourcenknappheit zur Priorisierung, wobei betont wird, dass stets “einzelfallbezogene Entscheidungen nach dem Prinzip der Gerechtigkeit auf der Basis von transparenten sowie ethisch und medizinisch-fachlich begründeten Kriterien” getroffenen werden müssen. Besondere Erwähnung findet, dass sich die individuelle Erfolgsaussicht nicht aus Faktoren wie Vorerkrankung oder Behinderung ergibt. Entscheidungen anhand von Schemata oder Algorithmen werden ausdrücklich abgelehnt. In Bezug auf Therapiezieländerungen bei Ressourcenknappheit werden keine genauen Empfehlungen ausgesprochen.[7]

Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI)

Im Unterschied zu ihren deutschen Kolleg*innen beschäftigt sich die ÖGARI nur wenig mit dem Prozess der Priorisierung bei der intensivmedizinischen Behandlung von COVID-19 Patient*innen. Dafür werden konkrete Kriterien genannt, unter denen die Änderung des Therapieziels respektive die Neueinordnung eines/r Erkrankten in Gruppe IV möglich ist. Eine Beendigung der intensivmedizinischen Maßnahmen kann demnach in Betracht gezogen werden, wenn der/die Patient*in “nach bestmöglicher individueller Prognose auf unabsehbare Zeit von Intensivtherapie vital abhängig bleiben wird, während ein/e andere/r Patient*in – gemessen an den zu plausibilisierenden Kriterien für den Beginn einer Intensivtherapie – ein besseres Outcome zu erwarten hätte”.[8]

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)

Die SAMW empfiehlt, ähnlich wie ihre deutschen Kolleg*innen, im Fall der Ressourcenknappheit eine Priorisierung zwischen den Patient*innen durchzuführen. Dabei haben diejenigen Vorrang, „deren Prognose im Hinblick auf das Verlassen des Spitals mit Intensivbehandlung gut, ohne diese aber ungünstig ist; Patienten also, die am meisten von der Intensivbehandlung profitieren”. Ausdrücklich als Kriterium abgelehnt wird ein - gleich wie bemessener - “gesellschaftlicher Wert”. Im Gegensatz zu den deutschen und österreichischen Kolleg*innen wird aber das Alter in die Priorisierung miteinbezogen. In Bezug auf die Neuzuordnung eines bereits unter Therapie befindlichen Menschen in Gruppe IV formuliert die SAMW, dass so entschieden werden soll, dass “die größtmögliche Anzahl von Leben gerettet wird.”[9]

Belgian Society of Intensive Care Medicine (SIZ)

Auch die SIZ empfiehlt eine Priorisierung der Patient*innen, die im Fall von Ressourcenknappheit den Prinzipien der Triage folgen soll. In Verbindung mit weiteren Kriterien können dabei auch das Alter und ernste Vorerkrankungen als Indikatoren für den Beginn bzw. die Aufrechterhaltung von therapeutischen Maßnahmen einbezogen werden. Auf eine Neuzuordnung von Patient*innen in Gruppe IV bei mangelndem Therapieerfolg wird lediglich mit einem Hinweis auf die individuellen, immer wieder zu evaluierenden Krankheitsverläufe Bezug genommen. [10]


Methodik der Triage

Autor: Clothaire Hanania

Triage wird ebenfalls als Methode verstanden, die die Behandlung von Patienten in der Notaufnahme oder im Falle von Ressourcenknappheit und/oder zu hohe Patientenmenge organisiert. Zuerst werden die Gütekriterien der Methode charackterisiert. Demnächst werden in Deutschland zwei benutzte Triage Systeme, die im Alltag oder im Falle von Ressourcenknappheit benutzt werden, präsentiert. Zum Schluss wird die Triage per Telefon, die während der Coronakrise, wegen der überschreitende Patientenmenge benutzt wurde, vorgestellt.


Die Triagesysteme als Methodik

Bei der Triage, wie sie bei der Aufnahme im Krankenhaus Anwendung findet, handelt es sich um ein System, um die stetig hinzukommenden Patient*innen untereinander zu priorisieren und somit eine möglichst effektive aber auch patient*innenbezogene Behandlung sicherzustellen. Um das zu garantieren, muss das System gewissen Gültigkeitskriterien genügen. Diese sind in Validität und Reliabilität. Die Validität eines Triage System wird gemessen durch die Widerspiegelung der festgelegten Dringlichkeitsstufe mit der tatsächlichen Dringlichkeit (Twomey et al. 2007: S.477)[11]. Zur Überprüfung der Validität werden Die Marker der Raten der Krankenhausaufnahme, die Aufnahme auf Intensivstation, Sterblichkeitsraten und Ressourcenverwendung verwendet (Fernandes et al. 2005: 46)[12]. Damit die Messmethode eine gute Aussagekraft hat muss die Reliabilität oder Replizierbarkeit der Ergebnisse möglichst hoch sein (vgl. Fernandes und al. 2005 zitiert nach Christ und al. 2010: 893)[13]. „Reliabilität wird mit Hilfe der к-Statistik angegeben: Bei einem Zufallsergebnis ist к = 0, bei к = 1 liegt eine absolute Übereinstimmung zwischen ≥ 2 Messungen vor“ (ebd.)[14]. Eine sehr gute Reliabilität benötigt eine Übereinstimmung zwischen 0,8 bis 1 (ebd.).[15] In der klinischen Notfallmedizin muss es Triage Instrumente geben, die eine befriedigende bis sehr gute Validität und Reliabilität aufweisen. Die Fünfstufigen Triage-Instrumente sind am meisten verbreitet, weil sie gute Gültigkeitskriterien aufzeigen. Am besten erforscht und am weitesten verbreitet ist der „Australasian Triage Scale“, „Canadian Triage and Acuity Scale“, das „Manchester Triage System“ und der „Emergency Severity Index“ (Christ et al. 2010: 893). [16] Der Triage Prozess wird benutzt um zu entscheiden welcher Patient nicht für eine Behandlung warten kann (Fernandes et al. 2005: 39).[17] Der Patient muss also weniger warten um behandelt zu werden, je mehr es sich um einen Notfall handelt. Und im Gegenteil muss dann der Patient, der keine gefährliche oder schmerzhafte Verletzung aufweist, länger warten um behandelt zu werden. Die Triage bedeutet also eine gewisse Wartezeit für die Behandlung von Patienten Das Manchester Triage System (MTS) und der Emergency Severity Index (ESI) werden in Deutschland angewendet (Klinger und Dormann 2019: 589)[18]. Wir werden diese Beiden deswegen analysieren.

Zwei in Deutschland benutzte Triage Systeme

Das MTS und ESI "sind in Deutschland de facto die vorherrschenden Instrumente zur Ersteinschätzung in Notaufnahmen" (Hermann et al. 2017: 15)[19]. Deswegen bezieht sich die vertiefende Analyse auf diese beiden Ansätze.

Manchester Triage System (MTS)

Das MTS wurde im Jahre 1994 von der Manchester Triage Group in Großbritannien entwickelt (Klinger und Dormann 2019: 590).[20] Der Ansatz des MTS ist symptom basiert (vgl. Somasundaram et al. 2009 zitiert nach Hermann et al. 2017: 15).[21] Auf Basis eines ausgewählten Leitsymptoms werden allgemeine Informationen sowie indikationsspezifische Informationen abgefragt (ebd.).[22] Die hierarchische Systematik der Abfrage ermöglicht eine Einordnung in eine von fünf Dringlichkeitsstufen. Wir wir auf der Abbildung 1 sehen, wird mit Indikatoren der höchsten Dringlichkeitsstufe begonnen. Wird das Ergebnis eines Indikators positiv, also wird mit ja beantwortet, erfolgt die Zuordnung des Falles zu der jeweiligen Dringlichkeitsstufe (ebd.).[23]


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Abbildung 1: Eigene Darstellung des MTS nach Mackway-Jones & Marsden & Windle (2011).

Emergency Severity Index

Das ESI System wurde von Notfall Medizinern und Pflegenden an der Harvard Medical School, Boston, USA, Ende der 1990 Jahre entwickelt (Klinger und Dormann 2019: 591).[24] Bei dem ESI wird im Gegensatz zum MTS ein mehrstufiger Prozess benutzt (vgl. Somasundaram et al. 2009 zitiert nach Hermann et al. 2017: 15).[25] Das heißt, dass sich die ersten zwei Stufen eher darauf beziehen, ob lebensbedrohliche Erkrankungen oder Hochrisikosituationen identifiziert werden. Dann richtet sich das System auf „den voraussichtlich benötigten Ressourcenbedarf und das Verbleiben der Ressourcen zur Einteilung in die Stufen 3 bis 5“ (ebd.)aus.[26] Es bedeutet im Falle von Ressourcenknappheit organisiert dieses Triagesystem wer die Ressource bekommt und behandelt wird.

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Abbildung 2: Eigene Darstellung des ESI nach dem Emergency Severity Index, Version 4 Implementation Handbook (2005)

Triage System per Telefon

Ein weiteres, oft benutztes Triage System funktioniert über das Telefon. Die telefonische Ersteinschätzung ist bereits seit längerer Zeit Bestandteil der Notfallversorgung in vielen Gesundheitssystemen (Hermann et al.2017: 16).[27] Dieses System wurde und wird auch in der Corona-krise sehr viel benutzt (Bartsch und al. 21.03.2020).[28] Allein am Montag den 16.03.2020 bekam ein Callcenter ungefähr „165,000 inquiries“(ebd.).[29] Dieses System wird hauptsächlich genutzt, um erste Einschätzungen der Situation des Infizierten zu erhalten. Es werden nach Symptomen des Patienten gefragt, um zu wissen ob eine sofortige Versorgung notwendig ist. Mögliche Fragen in der Corona Krise wären: „"Were you in China, Italy, Iran or South Korea? Do you have fever, a cough and shortness of breath?“ (ebd.).[30] Problem dieser Triage Systeme ist aber, dass Sie nicht ermöglichen eine genaue Analyse zu bekommen, da der Arzt den Patient nicht vor Augen analysieren kann (Norfolk 2016: 423).[31]

Die Situation der Triage in Frankreich mit Covid 19

Autorin: Léa CESBRON

Priorisierung der Patienten und Organisationen regionaler Akteure: Beispiel der Grand Est und der Ile de France

In Frankreich ist die Verteilung der Coronavirus-Fälle sehr ungleichmäßig, und es sind zuerst die Regionen der Grand Est und dann die Ile de France, die massiv vom Virus befallen sind.

[32] Diese Karte stellt die vom INSEE zwischen dem 1. März und dem 12. Juni 2020 gemessene Übersterblichkeit dar, indem der Durchschnitt der in diesem Zeitraum beobachteten Todesfälle im Vergleich zum gleichen Zeitraum in den Jahren 2018 und 2019 verglichen wird.

Da den Krankenhäusern und medizinisch-sozialen Einrichtungen nicht genügend Ressourcen zur Verfügung standen (Masken, Beatmungsgeräte, Betten usw.) , mussten die Ärzte und die regionalen Gesundheitsbehörden die sogenannte „Agence Régionale de Santé ARS“ Prioritäten setzen. Deren Aufgabe darin bestand, die Auswahlkriterien für die Aufnahme oder Nichtaufnahme eines Patienten auf die Intensivstation festzulegen. In bestimmten Krankenhäusern, die sich in einer kritischen Situation auf dem Höhepunkt der Epidemie befanden, bestand das Ziel darin, "so viele Menschen wie möglich zu retten, die eine Überlebenschance haben", aber immer nach den folgenden Prinzipien :[33]


- Kollegialität (eine Entscheidung eines Arztes muss vom Gesundheitsteam unterstützt werden)

- Respekt für die Wünsche und Werte des Patienten

- Unter Berücksichtigung des vorherigen Zustands des Patienten: seine Fragilität, bewertet anhand der CFS-Skala - sein Alter (besonders bei Covid-Patienten zu berücksichtigen) - seine Komorbiditäten: schwer vs. stabilisiert, einfach vs. mehrfach - sein neurokognitiver Zustand: normale kognitive Funktionen, wenig oder sehr beeinträchtigt - die Kinetik der Verschlechterung seines Allgemeinzustandes während der letzten Monate

- Unter Berücksichtigung seines gegenwärtigen klinischen Schweregrades durch Bewertung der Anzahl der Organversagen zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung, einer der beteiligten Ärzte in dem sie den Patienten oder seine Familie hätten untersuchen und mit ihm oder seiner Familie gesprochen haben sollen: Atmung; Hämodynamik; Neurologisch: Glasgow-Score <12; Degradationskinetik organischer Ausfälle; Mögliche Verwendung der SOFA-Punktzahl

- Die Bewertung seines Komforts (Schmerz, Angst, Erregung ...)

- Die Garantie von Betreuung und Unterstützung für alle respektvoll gegenüber der Person und seiner Würde.



In Frankreich gab es Prozesse der Priorisierung von Patienten in den Regionen Grand Est und Ile de France im Hinblick auf den Zugang zur Intensivpflege und Reanimation. Der Begriff Triage wird jedoch nicht verwendet, um zu beschreiben, was passiert ist. Viele Artikel zeigen, dass sie eine Triage von Patienten vermieden haben, wenn es um das Leben der Patienten ging. Mit anderen Worten, sie waren in der Lage, den Strom der Patienten zu steuern, die nach dem Priorisierungsprozess (oben genannten Grundsätzen) zur Reanimation gehen mussten. So wurde der digitale Austausch von der Zeitung "l'Obs" wahrgenommen, in welche die Ärzte über die Entscheidungen sprechen, die sie treffen müssen, um den Zugang zur Intensivpflege einzuschränken:

"Die Wiederbelebung Betten in der Region sind gesättigt, und es ist unmöglich, Beatmungsgeräte zur Eröffnung neuer Wiederbelebung Stationen zu finden. Gestern habe ich ein Gremium von Spezialisten (Intensivstation, Infektionskrankheiten, Innere Medizin, Pneumologie, Geriatrie, Notarzt) zusammengebracht, um die Indikationen für die verschiedenen Kanäle festzulegen und die Kriterien (insbesondere das Alter) für die Einschränkung des Zugangs zur Intensivstation klarer zu definieren.” [34]

Nach diesen Kriterien wird dann mit dem Gesundheitsteam ein Entscheidungsprozess festgelegt, bei dem die persönlichen Daten des Patienten berücksichtigt werden.

Die oben genannten Prinzipien werfen viele der ethischen Fragen auf, die wir bereits im ersten Teil des WIKI diskutiert haben. Einige Ärzte weisen jedoch darauf hin, dass es bereits eine Sortierung und Priorisierung angesichts therapeutischer Entscheidungen gab, dass diese aber mit dieser Krise einfach massiver und sichtbarer ist.[35]

Wiederum laut der letzten SAE-Umfrage von 2018 (Annual Statistics of Health Establishments), die jedes Jahr vom Gesundheitsministerium durchgeführt wird, gab es 5.050 Intensiv-Betten in 2018 im Frankreich. Und nach dem Gesetzbuch über das öffentliche Gesundheitswesen entspricht ein Bett auf der Intensivstation einem Bett, aber auch einem Gerät zur Atemunterstützung (im Allgemeinen als Beatmungsgerät bezeichnet) und dem Pflegepersonal unter der Verantwortung einer Pflegekraft auf einem Niveau (mindestens) von zwei Krankenschwestern für je fünf Patienten und einem Pflegeassistenten für je vier Patienten.[36]

Im Falle einer Triage aufgrund fehlender Reanimation Betten für einen Patienten, dessen Profil für die Reanimation ausgewählt wurde, nennt die ARS der Ile de France drei Möglichkeiten :[37]

1°Verlegung in ein ungesättigtes Krankenhaus

In Frankreich, wie auch in China und Italien, als beschlossen wurde, Patienten, die auf Intensivstationen aufgenommen werden sollten, vorrangig zu behandeln, waren die Krankenhäuser manchmal mit einer unzureichenden Bettenzahl gesättigt, so dass eine gemeinsame Organisation der SAMU und der ARS notwendig war: die Zahl der Aufnahmen in Echtzeit zu regulieren und zu zählen, um Reisen in andere Krankenhäuser zu organisieren, die nicht gesättigt waren. In der Region Grand Est reichten Mitte März und trotz der Hilfe der Armee bei der Einrichtung provisorischer Militärkrankenhäuser die intraregionalen Transfers nicht mehr aus, da alle Betten belegt waren. Daher wurden einige Patienten nach Toulouse oder Marseille in den südlichen Regionen verlegt, um die Grand Est zu entlasten.

2° Verwendung eines degradierten Pflegemodus zur Optimierung der Patientenoxygenierung in verwandten Strukturen, aber im Falle dieser Krise würden solche Einrichtungen auch ohne die erforderliche Ausrüstung und zusätzliche Pflegeteams eine Sättigung erreichen.

3° Bumping, besteht darin, die Betreuung eines Patienten zu verkürzen, um Platz für einen anderen Patienten bei der Wiederbelebung zu schaffen. Diese Lösung fördert die frühe Extubation von Patienten und ihre Überführung in eine Zwischenstruktur (auch mit Relais mit hohem Sauerstofffluss) und erfordert, dass die Zeitlichkeit der Entscheidungsprozesse und die mögliche Einführung von Palliativpflege und familiärer Unterstützung respektiert werden. Was die Triage von Patienten in Frankreich betrifft, so zeigen die von Krankenhäusern und die ARS übermittelten Informationen bisher, dass es keine Triage wie in Italien mit Menschen gegeben hat, die intubiert werden sollten, aber nicht intubiert werden könnten. Nur der erste Prinzip von “Verlegung in ein ungesättigtes Krankenhaus” wurde benutzt. Es gab "Gewissensentscheidungen" in der Ile de France und in der Region Grand Est. So konnte das Schlimmste verhindert werden, aber es gab auch Hunderte von Patienten, die in andere Regionen verlegt wurden, weil Krankenhäuser und Intensivstationen überlastet waren.

Was die Triage von Patienten in Frankreich betrifft, so zeigen die von Krankenhäusern und die ARS übermittelten Informationen bisher, dass es keine Triage wie in Italien mit Menschen gegeben hat, die intubiert werden sollten, aber nicht intubiert werden könnten. Nur der erste Prinzip von “Verlegung in ein ungesättigtes Krankenhaus” wurde benutzt. Es gab "Gewissensentscheidungen" in der Ile de France und in der Region Grand Est. So konnte das Schlimmste verhindert werden, aber es gab auch Hunderte von Patienten, die in andere Regionen verlegt wurden, weil Krankenhäuser und Intensivstationen überlastet waren.[38]

Priorisierung der medizinisch-sozialen Einrichtungen (Alters und Pflegeheims/ Psychiatrie)

Wenn man im Hinblick auf die Gesundheits- und medizinisch-sozialen Einrichtungen nicht von "Triage" sprechen kann, so kann man hinsichtlich der den verschiedenen Einrichtungen zugewiesenen Ressourcen durchaus von einer politischen Prioritätensetzung sprechen. Einige Akteure im medizinisch-sozialen Bereich sprechen von einem "Staatsskandal" oder von einem Staatsausstieg mit der Verpflichtung, allein zu wirtschaften, ohne Anweisungen und ohne die Mittel, den Schutz der Patienten in der Geriatrie und Psychiatrie weiterhin zu gewährleisten. Der von Les Echos veröffentlichte Artikel über "Die Autonome Republik der Psychiatrie" berichtet unter anderem über die Auswirkungen der Pandemie auf das psychiatrische Krankenhaus von Ville Evrard in Seine Saint Denis, das aufgrund seiner Lage das von der Epidemie am stärksten betroffene psychiatrische Krankenhaus in Frankreich war. In diesem Artikel sprechen sie von einer Priorisierung des Staates nach der Art der Einrichtung: dies entspricht dem Triage-Schema: aufgrund fehlender Mittel müssen die Einrichtungen nach einer Rangfolge klassifiziert werden. Das Problem ist, dass eine solche Klassifizierung mehr Ungleichheiten zwischen den Patienten schafft, die nicht mehr als Individuen, sondern als Mitglieder einer Einrichtung betrachtet werden.

"Unsere Disziplin hatte für die Gesundheitsbehörden keine Priorität: Wir lagen an dritter Stelle hinter den Covid-Einheiten, den CHUs und vor den EHPADs. Wir hatten keine Schutzausrüstung und keine Empfehlungen, wie wir uns verhalten sollten, abgesehen von der Verpflichtung, unsere Tagesstätten zu schließen. » [39]

So stellt die in diesem Artikel beschriebene Priorisierung die EHPADs, Einrichtungen für pflegebedürftige ältere Menschen, an das Ende der Ressourcenkette, obwohl die Sterblichkeitsrate unter den älteren Menschen höher ist als in der übrigen Bevölkerung.

In Frankreich standen 700.000 private oder öffentliche Einrichtungen für ältere und abhängige Menschen an vorderster Front gegen das Virus. Die "Teil"-Zahlen über die Opfer des EHPAD-Virus wurden erst ab dem 2. April, d.h. fast zwei Monate nach Beginn der Krise, erfasst.[40] Die EHPADs hatten keine klaren Anweisungen des Ministeriums für Solidarität und Gesundheit, sie hätten einen Leitfaden mit Hinweisen zu Barrieremaßnahmen und zur Quarantäne potenziell infizierter Patienten erhalten, aber wichtige Entscheidungen mussten oft auf der Ebene der Leitung der Einrichtungen getroffen werden, und insbesondere die Lieferung von Masken war für diese Einrichtungen, denen angesichts des Mangels keine Priorität eingeräumt wurde, sehr kompliziert. Etwa 12 769 Menschen sind seit dem 1. März in einem Heim für ältere Angehörige an Covid gestorben.[41] Anfang März fanden mehrere nationale Maskenlieferungen für 37 Millionen Masken statt. Die Verwaltung dieser Lieferungen wurde auf der Ebene der regionalen Gesundheitsbehörden (ARS) und in Zusammenarbeit mit den Departements beschlossen, die manchmal die Verteilung der Masken je nach Einrichtung entscheiden und vornehmen mussten.[42]

So sind wir Zeugen großer Disparitäten, über die Geographie hinaus haben einige Einrichtungen beschlossen, das Pflegepersonal auf die Bewohner zu beschränken ( z.B. Bergeron Grenier in Charente), während andere diese außergewöhnlichen Maßnahmen nicht ergriffen haben. Da nicht alle Einrichtungen über die gleiche Grundausstattung verfügen (fehlendes Personal, laufende Renovierungen, wenige Quarantäneplätze usw.), hat das Fehlen direkter staatlicher Unterstützung aufgrund fehlender Mittel die Ungleichheiten auf der Ebene der sozialmedizinischen Einrichtungen vertieft.

Notfallsituation in Frankreich: das Ergebnis einer öffentlichen Gesundheitspolitik, die bereits eine indirekte Triage eingeführt hat?

Diese Krise hat unter anderem die Unterbesetzung einiger Krankenhäuser, die schlechte Verteilung der Ressourcen und die Ungleichheiten in der Versorgung, die von einer Abteilung zur anderen bestehen können, aufgezeigt. In Seine Saint Denis zum Beispiel war die Zahl der Beatmungsgeräte und Betten für eine bestimmte Einwohnerzahl dreimal niedriger als in Pariser Krankenhäusern.[43]

Was wir die Triage der medizinisch-sozialen Einrichtungen genannt haben, hat vor allem die bereits bestehende Prioritätensetzung im Bereich der öffentlichen Gesundheit und des Budgets hervorgehoben. Einige Artikel, wie das “Tribune”(Artikel), das von 13 gewählten Vertretern und Gesundheitsbeamten verfasst wurde, prangerten eine "krankhafte Gleichgültigkeit" des Staates gegenüber älteren Menschen an. Dieser Artikel prangert eine Politik an, die das französische Gesundheitssystem geschwächt hat und die als Folge dieser Politik heute nicht in der Lage ist, die älteren Menschen zu schützen. In diesem Artikel prangern gewählte Amtsträger und Führungskräfte des Gesundheitswesens eine Tragödie an, die sich hinter verschlossenen Türen abspielt, und prangern die Sortierung dieser alten Menschen an, die als zu alt und zu schwach angesehen werden, um zu versuchen, sie auf die Intensivstation zu bringen.[44]

Hier handelt es sich über das Krisenmanagement hinaus um ein ganzes Versorgungssystem, das auf einer Prioritätensetzung beruht. Eine solche Krise machte die Mängel im Bereich der medizinisch-sozialen Betreuung in Frankreich nur noch deutlicher. Marie-Sophie Desaulle, Präsidentin des Verbands der privaten Krankenhäuser und Einrichtungen für persönliche Hilfe (Fehap), vertraute sich den Journalisten von Le Monde an und meinte, dass die Regierung nicht der einzige Schuldige sei, dass es eine Art politische Tradition gäbe:

"Wann immer es eine Gesundheitskrise gibt, besteht der Reflex Frankreichs darin, den Gesundheitssektor und damit das Krankenhaus zu schützen. Umgekehrt berücksichtigen die nordischen Länder angelsächsischer Kultur, insbesondere Deutschland, zunächst die Situation gefährdeter Menschen»[45]

Schließlich wurden die Patienten auch indirekt priorisiert: nach der Pflegeeinrichtung, in der sie interniert waren.Tatsächlich sind etwas mehr als 43% der Menschen, die wegen Covid ins Krankenhaus eingeliefert werden, über 80 Jahre alt. Allerdings gibt es erhebliche regionale Unterschiede. In der Ile-de-France starben 20% der Einwohner von Ehpad, die Opfer des Covid waren, im Krankenhaus. Das sind 1.000 von ungefähr 5.000 seit dem 1. März. In den Hauts-de-France liegen sie bei etwa 40%. So war der Zugang zur Krankenhausversorgung auf der Intensivstation für die Bewohner von Ehpad nicht von Region zu Region gleich, in der Ile de France entschied man sich dafür, die Bewohner von Ehpad in den EHPADs zu behalten.[46]

Situation in Deutschland

Versorgungslage von Anfang März bis heute

Laut den letzten verfügbaren Zahlen des statistischen Bundesamts von 2017 stehen in den 1.942 Krankenhäusern Deutschlands insgesamt 28.031 Intensivbetten (ITS-Betten) zur Verfügung. Das entspricht 33,7 ITS-Betten pro 100.000 Einwohner.[47] Damit war die Ausgangslage in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten zu Beginn der Pandemie relativ gut. Italien verfügt mit 12,5 ITS-Betten pro 100000 Einwohner*innen (Stand 2012) über weniger als die Hälfte der deutschen Kapazitäten. In den Niederlanden waren es im Jahr 2018 7,1 Betten.[48] Allerdings wird in Deutschland anders als in anderen Ländern die Auslastung der Intensivbetten nicht systematisch erfasst. Ende März begann die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ein Register anzulegen, in dem die Krankenhäuser auf zunächst auf freiwilliger Basis angeben konnten, wie viele Kapazitäten auf ihren Intensivstationen noch frei sind.[49] Seit dem 9. April ist die Meldung im "Intensivregister" verpflichtend für alle Kliniken bzw. Krankenhausstandorte, die Intensivbetten zur Akutbehandlung betreiben. Da im DIVI-Intensivregister jeweils nur die aktuellen Zahlen einsehbar sind, lässt sich aus diesen Daten kein zeitlicher Verlauf der Auslastung in Deutschland ableiten. Die Berliner Morgenpost stellt auf der Grundlage der Daten des Intensivregisters eine interaktive Karte zur Verfügung, aus der die Auslastung der Krankenhäuser in den einzelnen Regionen hervorgeht.[50] Die TU Berlin bietet eine Datenbank über die Anzahl von Patient*Innen, die in 18 europäischen Staaten stationär und im Krankenhaus behandelt werden.[51] Die Daten werden täglich aktualisiert.

Übernahme von Patient*innen aus anderen Staaten

Die Abschottung und nationalen Alleingänge der einzelnen EU-Staatem im Zuge der Corona-Pandemie wurden immer wieder kritisiert. Allerdings gab es auch einige Fälle von Solidaritätsbekundungen und gegenseitiger Unterstützung zwischen den EU-Staaten. Als Reaktion auf dei verschärfte Versorgungslage in den Nachbarstaaten erklärten sich mehrere deutsche Städte und Bundesländer bereit, schwerkranke Patient*innen aus Frankreich, Italien und den Niederlanden aufzunehmen. In zehn Bundesländern wurden 85 ITS-Betten für Patient*innen aus Italien reserviert und 95 ITS-Betten für Patient*innen aus Frankreich. Insgesamt wurden 44 Patient*innen aus Italien, 130 Patient*innen aus Frankreich und 46 Patient*innen aus den Niederlanden nach Deutschland überführt (Stand 18.06.).[52] Die Eine detaillierte Aufschlüsselung der medizinischen, ökonomischen und logistischen Hilfeleistungen von EU-Mitgliedsstaaten untereinander seit Beginn der Pandemie bietet der “European Solidarity Tracker” des Think Tanks European Council on Foreign Relations.

Zivilgesellschaftliche Debatte um Triage

In den Blickpunkt der Öffentlichkeit geriet das Thema Triage in Deutschland, als Ende März Berichte über die Überlastung der Gesundheitssysteme in Frankreich und Italien bekannt wurden. Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Bericht, den das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin im Auftrag der Landesregierung Baden-Württemberg über die Situation an der Universitätsklinik Straßburg geschrieben hatte. Dem Bericht zufolge wurden Patient*innen über 80 Jahren seit dem 21. März nicht mehr beatmet und stattdessen mit Opiaten und Schlafmitteln sediert. Um die Anzahl der Erkrankten zu stemmen, müssten auch mit dem Coronavirus infizierte Mediziner*innen und Pfleger*innen weiterarbeiten. Erst beim Auftreten von Symptomen sei es dem Personal gestattet, die Arbeit zu unterbrechen.[53] Die Universitätsklinik Straßburg widersprach der Darstellung des DIFKM und betonte, dass nicht alleine das Alter, sondern der Gesundheitszustand insgesamt entscheidend dafür sei, ob ein*e Patient*in weiter beatmet wird.[54] Außerdem seien bereits neue Intensivkapazitäten geschaffen worden. Das DIFKM nahm den Bericht zum Anlass, auch für deutsche Krankenhäuser bessere Vorbereitungen zu fordern. Auch die Empfehlungen der DIVI und weiterer medizinischer Fachgesellschaften (s. oben) über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall-und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie vom 25.03. wurden vor allem von Behindertenrechts-Aktivist*innen und -Verbänden sehr kritisch aufgenommen. Die NGO AbilityWatch sieht darin eine strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Behinderung. besonders kritisch sieht AbilityWatch die Bezugnahme auf den )Clinical Frailty Scale (CFS, da hier Menschen über 65 Jahren anhand von äußeren Merkmalen in verschiedene Kategorien einsortiert werden, die am Ende zur Priorisierung von Patient*innen dienen. Menschen, die auf Unterstützung von dritten oder auf Rollstühle angewiesen sind, würden so automatisch in eine höhere Kategorie eingestuft werden und hätten damit geringere Chancen auf eine Behandlung. Die Kriterien des seien allerdings völlig unzulänglich und sagten nichts über die tatsächlichen Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung aus. Damit widersprächen die Leitlinien dem Grundgesetz, das eine Abwägung von Leben gegen Leben verbietet. Als Reaktion auf die Kritik veröffentlichten die medizinischen Fachgesellschaften am 16.04. eine überarbeitete Version der Empfehlungen. Am 5. Mai haben die LIGA Selbstbestimmung, die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) und dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) den “Runden Tisch Triage” ins Leben gerufen, eine Online-Plattform, auf der über menschenrechtliche Grundsätze für die Zuweisung intensivmedizinischer und notfallmedizinischer Ressourcen diskutiert werden kann.

Einzelnachweise